Joseph Anton
später sah er das zweite Flugzeug.
Er konnte sich nicht hinsetzen. Zu sitzen erschien falsch. Mit der Fernbedienung in der Hand stand er vor dem Fernseher, derweil sich die Zahl Fünfzigtausend unaufhörlich in seinem Kopf drehte. Fünfzigtausend Menschen arbeiteten in den Zwillingstürmen. Er mochte sich die Zahl der Toten nicht ausmalen. Er dachte an seine allererste Nacht in New York City, an seinen Besuch im ›Windows of the World‹. Er dachte daran, wie Paul Auster ihm von Philippe Petits Drahtseilakt zwischen den beiden Türmen erzählt hatte. Doch vor allem stand er da und starrte auf die brennenden Gebäude und schrie zeitgleich mit Tausenden von anderen in der Welt in fassunglosem Entsetzen auf: »Er ist weg! Er ist nicht mehr da!«, als der zweite Turm fiel.
Vögel schrien am Himmel.
*
Da er nicht wusste, was er tun sollte, fuhr er zum Flughafen, doch auf halbem Weg wurde über Radio bekanntgegeben, dass sie wegen des nationalen Abflugverbots umkehren mussten. Zurück im Four Seasons, hatte er kein Zimmer mehr, und die Lobby war voller Menschen, denen es genauso ging wie ihm. In einer Ecke ergatterte er einen freien Sessel und fing an herumzutelefonieren. Rich Levy von Inprint kam ihm zu Hilfe. Er sprach mit dem Dichter Ed Hirsch und seiner Frau Janet, die in D.C. hängen geblieben waren und ihm ihr Haus unweit der Menil Collection im Museumsviertel anboten, wenn er dafür ihren Hund füttern würde. Es war tröstlich, im Haus eines Schriftstellers unterzukommen, allein und von Büchern umgeben, in der Welt des Verstandes, während Unverstand die Welt regierte.
Niemand, den er kannte, war ums Leben gekommen, doch Tausende waren ums Leben gekommen. Peter Careys Frau Alison Summers war unten im Nordturm bei ATM gewesen, als das erste Flugzeug einschlug, doch sie kam mit dem Leben davon. Caryl Phillips war gerade in der Hudson Street, als es passierte, und Robert Hughes in der Prince. Die junge Sophie Auster saß an ihrem ersten Highschool-Tag zum ersten Mal in ihrem Leben allein in der U-Bahn und fuhr gerade unter den Türmen entlang, als oben das Grauen passierte. Der 12. September war ein weiterer Tag des Schreckens und der Trauer. Sieh dir unsere wunderschöne, gebrochene Stadt an , dachte er wei nend und begriff, wie sehr er bereits an ihr hing. Vom Haus der Hirschs aus ging er zur Rothko Chapel hinunter. Selbst für einen gottlosen Mann fühlte es sich gut an, dort zu sein. Auch andere waren dort; nicht viele, nur eine bedrückte Handvoll. Niemand sagte etwas. Es gab nichts zu sagen. Jeder war mit seinem Kummer allein.
Natürlich wurde seine Lesereise gestrichen. Niemand interessierte sich für Bücher. Die einzigen Bücher, die sich in den kommenden Wochen verkauften, waren die Bibel oder der Koran und Bücher über al-Qaida und die Taliban. Ein Psychologe sagte im Fernsehen, New Yorker, die am 11. September nicht bei ihren Familien gewesen waren, sollten zu ihnen fahren, um ihnen zu beweisen, dass es ihnen gutging. Mit einem Anruf sei es nicht getan. Sie müssten es mit eigenen Augen sehen. Ja , dachte er, ich sollte nach London fahren. Doch das war noch nicht möglich. Das Abflugsverbot wurde aufgehoben, und die Flughäfen öffneten nach und nach wieder. Houston wurde geöffnet und dann Los Angeles, doch die New Yorker Flughäfen blieben geschlossen, und der internationale Flugverkehr lag auf Eis. Er musste noch ein paar Tage warten.
Er rief Padma in Los Angeles an und sagte, er käme zu ihr. Sie sagte, sie habe ein Unterwäschenshooting.
*
Zehn Tage nach den Angriffen, an seinem letzten Abend in Los Angeles, ehe er nach London flog, war er zusammen mit Steve Martin, Garry Shandling und anderen bei Eric und Tania Idle zum Abendessen eingeladen. Mindestens drei der lustigsten Männer Amerikas waren um den Tisch versammelt, doch so recht wollte kein Spaß aufkommen. Schließlich sagte Garry Shandling mit triefäugiger Trübsal: »So etwas Entsetzliches. Jeder scheint irgendjemanden verloren zu haben oder jemanden zu kennen, der jemanden verloren hat … Ich kannte auch ein paar von den Terroristen …« Es war rabenschwärzester schwarzer Humor, der erste 9/11-Witz, und lachend konnte man seinem Kummer ein wenig Luft machen, doch er bezweifelte, dass Shandling den Gag in nächster Zeit in sein Repertoire aufnehmen würde.
Der Kunstkritiker der Times, Robert Hughes, erzählte ihm am Telefon, nachdem er die Flugzeuge über SoHo gesehen habe, habe er unter Schock gestanden. Auf dem Weg nach
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