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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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oder, um es auf den Punkt zu bringen, dass sein Wesen sein Schicksal war. Es war schwer, an dieser Idee festzuhalten, während der Qualm des Todes über Ground Zero stand und die Ermordung Tausender Männer und Frauen, deren Wesen nicht bestimmend für ihr Schicksal gewesen war, das allgemeine Bewusstsein beherrschte. Es hatte keine Rolle gespielt, ob sie fleißig, großherzig, liebevoll oder romantisch gewesen waren, die Flugzeuge hatten sich um ihr Ethos nicht geschert; tatsächlich konnte Terrorismus nun Schicksal sein, Krieg konnte Schicksal sein, wir hatten unsere Leben nicht mehr gänzlich in der Hand; und dennoch mussten wir im Angesicht des Grauens mehr denn je auf unserer souveränen Natur bestehen, es war wichtig, sich für die Verantwortung des Einzelnen starkzumachen, zu sagen, dass die Mörder die moralische Verantwortung für ihre Taten trugen und weder ihr Glaube noch ihre Wut auf Amerika als Entschuldigung gelten konnten; in einer Zeit monströs aufgeblähter Ideologien war es wichtig, den menschlichen Maßstab nicht aus den Augen zu verlieren, weiterhin auf unsere grundlegende Menschlichkeit zu bestehen, sich in der Kampfzone weiterhin zu lieben.
    In einem Roman war es klar, dass das menschliche Ich heterogen und nicht homogen war, nicht einfach, sondern vielfach, mannigfaltig, gebrochen und widersprüchlich. Der Mensch, der man für seine Eltern war, entsprach nicht dem, der man für seine Kinder war, das arbeitende Ich war ein anderes als das liebende, und abhängig von Tageszeiten und Stimmungen konnte man sich groß oder dünn, unwohl oder sportlich oder konservativ oder ängstlich oder begehrens wert finden. Sämtlichen Schriftstellern und Lesern war klar, dass die Identität des Menschen nicht schmalspurig, sondern breit gefä chert war und dass diese Bandbreite der menschlichen Natur dem Leser erlaubte, Gemeinsamkeiten und Identifikationsmöglichkeiten mit Madame Bovary, Leopold Bloom, Oberst Aureliano Buendía, Raskolnikow, Gandalf dem Grauen, Oskar Matzerath, den Makioka-Schwestern, dem Continental-Op, Lord Emsworth, Miss Marple, dem Baron auf den Bäumen und dem Roboterboten Salo vom Planeten Tralfamadore in Kurt Vonneguts Die Sirenen des Titan zu finden. Leser und Autoren konnten dieses Wissen um die umfassende Identität in die Welt jenseits der Buchseiten mitnehmen und es nutzen, um sich in ihren Mitmenschen wiederzufinden. Man konnte für unterschiedliche Fußballmannschaften sein, aber dieselbe Partei wählen. Man konnte unterschiedliche Parteien wählen, aber bei der Kindererziehung einer Meinung sein. Man konnte unterschiedliche Auffassungen bei der Erziehung haben, aber die Angst vor der Dunkelheit teilen. Man konnte verschiedene Ängste haben, aber die gleiche Musik lieben. Man konnte den Musikgeschmack des anderen grauenhaft finden, aber an denselben Gott glauben. Man konnte in Glaubensdingen sehr konträrer Meinung sein, aber dieselbe Fußballmannschaft gut finden.
    Die Literatur wusste das, hatte es immer gewusst. Sie versuchte , das Universum zu öffnen , die Gesamtheit dessen, was der Mensch wahrzunehmen, zu begreifen und somit zu sein vermochte, zumindest ansatzweise zu vergrößern. Große Literatur ging an den Rand des Bekannten und drängte gegen die Grenzen von Sprache, Form und Möglichkeiten, um die Welt größer und weiter erscheinen zu lassen. Doch das jetzige Zeitalter drängte die Menschen zu immer engstirnigeren Definitionen ihrer selbst, brachte sie dazu, sich nur einem Begriff zuzuordnen, Serbe oder Kroate oder Israeli oder Palästinenser oder Hindu oder Muslim oder Christ oder Bahai oder Jude, und je enger ihre Identitäten wurden, desto wahrscheinlicher wurden Konflikte. Die literarische Sichtweise der menschlichen Natur warb für Verständnis, Mitgefühl und die Identifikation mit Menschen, die anders waren als man selbst, doch die Welt drängte jeden in die entgegengesetzte Richtung, hin zu Engstirnigkeit, Fanatismus, Tribalismus, Kultismus und Krieg. Es gab genug Menschen, die nicht wollten, dass das Universum sich öffnete, sondern es lieber gesehen hätten, wenn es sich für ein Weilchen schließen würde, und wenn Künstler sich gegen die Grenzen stemmten, trafen sie oftmals auf mächtige Gegenwehr. Dennoch taten sie, was sie tun mussten, auch wenn sie dafür mit ihrer eigenen Ungestörtheit und manchmal mit ihrem Leben bezahlen mussten.
    Der Dichter Ovid war von Kaiser Augustus in ein kleines Höllenloch namens Tomis am Schwarzen Meer verbannt worden.

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