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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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dunkles Epos über Tyrannei und Freiheit, Mensch und Maschine, restauriert und endlich von Giorgio Moroders Elektronika-Soundtrack befreit.
    Es war Labour-Day-Wochenende, seine letzten freien Tage, ehe Wut in Amerika erschien. Er traf Padma in Los Angeles, und sie flogen nach Colorado, um dort am 1. September Padmas einunddreißigsten Geburtstag damit zu verbringen, Filme in den Bergen zu sehen, durch die traulichen Straßen der Stadt zu schlendern, in denen Butch und Sundance ihre erste Bank ausgeraubt hatten, hier einen Kaffee mit Werner Herzog zu trinken und da ein Schwätzchen mit Faye Dunaway zu halten. In Telluride war keiner fieberhaft darauf aus, sich verkaufen zu wollen, jeder war nahbar. Man konnte problem los mit den Universalgelehrten des Films, Leonard Maltin und Ro ger Ebert, dem Dokumentarfilmer Ken Burns und anderen gut informierten Filmleuten plaudern, und jeder gab sein Wissen zum Besten und flachste herum. Jeder in Telluride war sich einig, dass Tom Luddy Gott und die Welt kannte. Der große Luddy, der König Hofnarr und Zeremonienmeister, nahm alles mit Humor. Telluride war ein spaßiger Ort. Um mit dem Skilift auf den Berg zum Chuck-Jones-Kino zu fahren, musste man eine ›Wabbit Weservation‹ vornehmen.
    Sie sahen den etwas zu süßlich fantasievollen französischen Kassenschlager Amélie und das kroatische No Man’s Land von Danis Tanov i ´ c, das einer Art Warten auf Godot in einem Schützengraben unter Beschuss glich, und Agnieszka Hollands kunstgerechten, HBO -finanzierten Schuss ins Herz , eine Adaption von Mikal Gilmores Buch über seinen Mörderbruder Gary. Sie sahen drei Filme am Tag, schliefen in manchen ein, und zwischen und nach den Vorstellungen gab es Partys. Am 3. September stiegen sie wieder vom Berg herab, und acht Tage später war es unmöglich, diese paradiesische Zeit nicht als Aufenthalt im Garten Eden zu erinnern, aus dem nicht nur sie, sondern die ganze Welt verbannt worden war.
    Das offizielle Publikationsdatum von Wut war der 11. September 2001. An dem Tag verwandelten die Ereignisse ein Buch, das als ultrazeitgemäßes, satirisches Porträt von New York gedacht war, in einen historischen Roman über eine Stadt, die nichts mehr mit der darin beschriebenen gemein hatte, deren goldenes Zeitalter auf die jäheste und entsetzlichste Weise geendet hatte; ein Roman, der bei den Lesern, die die Stadt kannten, wie sie vorher gewesen war, ein vom Autor nicht beabsichtigtes Gefühl auslöste: Wehmut. In Garry Trudeaus Comicstrip Doonesbury sagt eine der Figuren traurig: »Weißt du, ich vermisse total den 10. September.« Genau das war seinem Roman widerfahren. Die Ereignisse des 11. September hatten ihn in ein Porträt des vorigen Tages verwandelt. Die goldene Festung voller Juwelen war jetzt nicht mehr als ein Traum eines früheren, verlorenen Lebens.
    Am 10. September 2001 war er nicht in New York, sondern in Houston, Texas. Am fünften hatte er bei Barnes & Noble am Union Square gelesen und war dann zu einer Lesetour nach Boston aufgebrochen, wo er am sechsten und siebten las. Am Morgen des 8. September flog er nur drei Tage vor den tödlichen Flugzeugen am Logan Airport ab und war zwei Tage in Chicago. Am Abend des zehnten gab es ein volles Haus im Houstoner Alley Theater – neunhundert Menschen, zweihundert mussten wieder gehen, erzählte ihm der Veranstalter der Lesereihe Inprint, Rich Levy – und eine Überraschung vor seinen Türen: eine kleine, vielleicht zweihundert Menschen starke islamische Demonstration gegen seinen Auftritt. Es fühlte sich an wie ein Gespenst aus der Vergangenheit. Als er am nächsten Morgen an die bärtigen Plakatträger zurückdachte, fragte er sich, ob sie es nicht bedauerten, sich ausgerechnet an dem Tag als Extremisten geoutet zu haben.
    Er war gerade aufgewacht, als ein Radiojournalist in seinem Hotelzimmer anrief. Er hatte sich bereit erklärt, vor seinem Rückflug nach Minneapolis mit dem Sender zu reden, doch dafür war es eigentlich noch viel zu früh. »Es tut mir leid«, sagte die Stimme im Hörer, »aber wir müssen das Gespräch absagen. Wir müssen unsere gesamte Berichterstattung auf das konzentrieren, was gerade in New York passiert.« Er hatte nie die amerikanische Angewohnheit übernommen, morgens als Allererstes den Fernseher anzuschalten. »Was passiert denn in New York?«, fragte er. Es gab eine Pause, dann sagte die Stimme: »Schalten Sie sofort den Fernseher ein.« Er angelte nach der Fernbedienung, und kaum eine Minute

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