Joseph Anton
Diplomatenkoffern diverser Botschaftsangestellter, die das Buch begierig lasen, um es dann weiterzugeben.
Einige Jahre später erfuhr er, dass Scham und Schande sogar einen Preis im Iran erhalten hatte. Ohne sein Wissen war es in einer vom Staat lizensierten Raubkopie auf Farsi veröffentlicht worden, um dann zum besten in Farsi übersetzten Roman des Jahres gekürt zu werden. Er hat diesen Preis nie entgegengenommen, noch wurde er offiziell davon überhaupt in Kenntnis gesetzt, doch hieß dies – zumindest laut dem, was aus dem Iran zu ihm drang –, dass die iranischen, englische Bücher verkaufenden Buchhändler fünf Jahre später, als Die satanischen Verse herauskam, davon ausgingen, dass es unproblematisch sei, auch diesen neuen Titel eines Autoren zu verkaufen, der mit seinem früheren Werk ja bereits die Zustimmung der Mullahkratie gewonnen hatte. Also wurden Exemplare importiert und bei Erscheinen des Buches im September 1988 zum Verkauf angeboten. Sechs Monate lang, bis zur Verkündung der Fatwa im Februar 1989, lagen die Exemplare in den Schaufenstern, ohne dass sich irgendwer darüber aufgeregt hätte. Er fand nie heraus, ob diese Geschichte wirklich stimmte, hoffte es aber, da sie belegte, wovon er selbst überzeugt war: dass nämlich der Skandal um sein Buch von oben herab inszeniert worden und nicht von unten nach oben aufgekommen war.
Mitte der achtziger Jahre aber war die Fatwa eine unvorstellbare Wolke, die sich noch hinterm Horizont versteckte. Der Erfolg seiner Bücher hatte unterdessen eine wohltuende Wirkung auf seinen Charakter. Er spürte, wie sich tief in ihm etwas entspannte, wie er glücklicher, sanftmütiger, umgänglicher wurde. Seltsamerweise warnten ihn ältere Schriftsteller in jenen balsamischen Tagen vor schlimmeren Zeiten, die gewiss folgen würden. Angus Wilson lud ihn kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag zum Abendessen in den Athenaeum Club ein, und er hörte den Autor von Späte Entdeckungen und Die alten Männer im Zoo sehnsuchtsvoll von jenen Tagen reden, in denen er ›noch ein gefragter Schriftsteller war‹. Ihm wurde, begriff er, auf schonende Weise mitgeteilt, dass der Wind sich stets änderte und auch der angesagteste Jungstar morgen vielleicht schon zu den melancholischen, unbeachteten Senioren zählte.
Als er zur Veröffentlichung von Mitternachtskinder in die Staaten flog, machte die Fotografin Jill Krementz Aufnahmen von ihm, und er lernte ihren Mann Kurt Vonnegut kennen. Beide luden ihn übers Wochenende in ihr Haus in Sagaponack auf Long Island ein. »Meinen Sie es ernst mit der Schriftstellerei?«, fragte Vonnegut unvermittelt, während sie draußen in der Sonne saßen und ein Bier tranken. Als er dem Autor von Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug antwortete, ja, es sei ihm ernst, erwiderte der: »Dann sollten Sie wissen, dass der Tag kommt, an dem Sie kein Buch mehr zu schreiben haben und trotzdem eines schreiben müssen.«
Auf der Fahrt nach Sagaponack las er einen Stapel Rezensionen, die ihm sein amerikanischer Verlag Knopf geschickt hatte. Darunter war ein erstaunlich warmherziger Artikel in The Washington Post von Anita Desai. Wenn sie sein Buch gut fand, konnte er zufrieden sein; vielleicht hatte er wirklich etwas geschaffen, das der Mühe wert war. Und auch die Chicago Tribune brachte eine positive Besprechung, verfasst von Nelson Algren. Der Mann mit dem goldenen Arm, Wildes Leben … dieser Nelson Algren? Der Liebhaber von Simone de Beauvoir, der Freund von Hemingway? Es war, als hätte die goldene Vergangenheit der Literatur eine Hand nach ihm ausgestreckt, um ihn zu salben. Nelson Algren , sagte er sich verwundert. Und ich dachte, der ist längst tot . Er traf früher als erwartet in Sagaponack ein. Die Vonneguts verließen gerade das Haus, um zur Umzugsparty ihres Freundes und Nachbarn zu gehen … zu Nelson Algren. Ein schier unglaublicher Zufall. »Tja«, sagte Kurt, »wenn er Sie besprochen hat, würde er Sie sicher gern kennenlernen. Ich ruf an und sag ihm, dass Sie mit uns kommen.« Er ging zurück ins Haus. Einige Minuten später kam er wieder, verstört und grau im Gesicht. »Nelson Algren ist tot«, sagte er. Algren hatte bei den Partyvorbereitungen einen tödlichen Herzschlag erlitten. Die ersten Gäste fanden ihren Gastgeber tot auf dem Wohnzimmerteppich. Seine Besprechung von Mitternachtskinder war das Letzte, was er geschrieben hat.
Nelson Algren. Und ich dachte, der ist längst tot. Algrens Tod legte sich wie ein Schatten über
Weitere Kostenlose Bücher