Joseph Anton
zu sein.
Nach der Indienreise hatte er wieder als Werbetexter gearbeitet und konnte erst Ogilvys und später eine andere Agentur, Ayer Barker Hegemann, überreden, ihn nur für zwei oder drei Tage die Woche einzustellen, was ihm vier oder fünf Tage die Woche Zeit ließ, jenes Buch zu schreiben, das sich zu Mitternachtskinder auswachsen sollte. Nach dem Erscheinen des Buches sagte er sich, dass es nun Zeit wurde, diese Arbeit ganz aufzugeben, obwohl sie durchaus lukrativ war. Er hatte einen kleinen Sohn, und das Geld würde knapp werden, aber es war, was er tun musste. Er fragte Clarissa nach ihrer Meinung. »Wir müssen damit rechnen, arm zu sein«, sagte er. »Tja«, erwiderte sie, ohne zu zögern, »wenn es das ist, was du tun musst …« Der kommerzielle Erfolg des Buches, mit dem sie beide nicht gerechnet hatten, kam ihnen wie eine Belohnung für ihre Bereitschaft vor, den Sprung aus der Sicherheit ins finanzielle Dunkel zu wagen.
Als er kündigte, dachte sein Chef, er wolle mehr Geld. »Nein«, sagte er. »Ich will nur versuchen, ganz vom Schreiben zu leben.« Ach, erwiderte sein Chef, Sie wollen also viel mehr Geld. »Nein, wirklich nicht«, gab er zurück. »Ich will nicht verhandeln, sondern Ihnen nur Bescheid geben, dass ich in dreißig Tagen aufhöre zu arbeiten. Von heute an in einunddreißig Tagen komme ich nicht mehr ins Büro.« Hmmm, erwiderte sein Chef. Ich glaube, so viel Geld können wir Ihnen wohl doch nicht geben.
Einunddreißig Tage später, im Sommer des Jahres 1981, wurde er hauptberuflicher Schriftsteller, und als er die Agentur zum letzten Mal verließ, überkam ihn ein berauschendes, geradezu schwindelerregen des Gefühl der Befreiung. Wie eine ungewollte Haut streifte er die Zeit in der Werbebranche von sich ab, auch wenn er insgeheim stolz auf seinen bekanntesten Slogan › naughty but nice ‹ blieb (kreiert für einen Kunden, der frische Sahnetorten produzierte), aber auch auf die ›Bubble-Wörter‹, seine ›Luftblasenwort‹-Kampagne für Aero-Schokolade ( IRRESISTIBUBBLE, DELECTABUBBLE, ADORABUBBLE schrie es von den Plakatwänden herab, TRANSPORTABUBBLE war quer über Busseiten geschrieben, PROFITABUBBLE versprachen Geschäftsreklamen, und auf Schaufensterabziehbildern stand AVAILABUBBLE HERE .) Als Mitternachtskinder später in jenem Jahr den Booker-Preis erhielt, kam das erste Telegramm – in jenen Tagen schickte man noch Telegramme – von seinem ehedem so verwunderten Chef. »Glückwunsch«, schrieb er. »Einer von uns hat es geschafft.«
*
Als er am Abend der Preisverleihung mit Clarissa zur Stationers’ Hall ging, trafen sie die Verlegerin Carmen Callil, Gründerin des feministischen Verlags Virago und libanesisch-australischer Tausendsassa. »Salman«, schrie sie, »mein Lieber, du gewinnst!« Und er war gleich überzeugt, dass sie ihn verhext hatte und er nun ganz bestimmt nicht mehr gewinnen würde. Die Shortlist war beeindruckend. Doris Lessing, Muriel Spark, Ian McEwan …, er hatte nicht die geringste Chance. Und dann war da noch D. M. Thomas mit seinem Roman Das weiße Hotel , den viele Kritiker ein Meisterwerk nannten. (Zumindest ehe die Anschuldigung laut wurde, er habe in größerem Umfang Passagen aus Anatoli Kuznezows Babi Jar übernommen, was, jedenfalls für manche Leute, dem Ruf des Buches schadete.) Nein, sagte er Clarissa, vergiss es.
Viele Jahre später erzählte ihm ein Jurymitglied, Joan Bakewell, bekannte TV -Moderatorin für Kultursendungen, von ihrer Befürchtung, Malcolm Bradbury, der Vorsitzende der Jury, könne die übrigen Mitglieder mit aller Macht überreden wollen, den Preis für Das weiße Hotel zu vergeben. Folglich hatte sie sich vor der letzten Jurysitzung mit zwei weiteren Juroren, der Kritikerin Hermione Lee und Pro fessor Sam Hynes von der Princeton University, noch einmal privat getroffen, um sicherzustellen, dass sie dem Druck standhalten und für Mitternachtskinder stimmen würden. Letzten Endes gaben Bradbury und Brian Aldiss, der fünfte Juror, ihr Votum für Das weiße Hotel ab, und Mitternachtskinder gewann denkbar knapp mit drei zu zwei Stimmen.
D. M. Thomas konnte nicht zur Preisverleihung kommen, und seine Verlegerin Victoria Petrie-Hay machte der Gedanke, sie müsse den Preis vielleicht in seinem Namen entgegennehmen, so nervös, dass sie zu schnell ein wenig zu viel trank. Nach der Verkündung begegneten sie sich in der Menge. Mittlerweile war sie ziemlich angesäuselt und gestand ihm, wie erleichtert sie sei,
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