Joseph Anton
Buch Menschen sterben, hätten Sie es natürlich nie geschrieben.« Rushdie zählte ganz langsam bis zehn. Es wäre nicht in Ordnung, diesen alten Mann zu schlagen. Es wäre besser, unter irgendeinem Vorwand einfach zu gehen. Er neigte den Kopf, eine bedeutungslose Geste, und machte auf dem Absatz kehrt. In den folgenden Jahren sollten sie nicht mehr miteinander reden. Er verdankte Bob Gottlieb viel, bekam diese letzten Worte aber einfach nicht mehr aus dem Kopf, obwohl er wusste, so wie Gottlieb bei ihrer ersten Begegnung die Wirkung seiner Worte über Naipauls Buch nicht begriffen hatte, begriff jener nicht, was falsch an dem war, was er bei ihrer letzten Begegnung gesagt hatte. Bob glaubte, sein Freund zu sein.
*
1984 endete seine Ehe. Vierzehn Jahre hatten sie zusammengelebt und sich voneinander entfernt, ohne es zu merken. Clarissa wollte aufs Land, und sie verbrachten einen Sommer damit, westlich von London nach einem Haus zu suchen, doch sah er bald ein, dass ihn ein Umzug aufs Land verrückt machen würde. Er war ein Stadt mensch. Er sagte ihr das, und sie gab nach, nur war es für sie beide nicht einfach. Als sie sich verliebt hatten, waren sie beide noch sehr jung gewesen, und nun, da sie älter wurden, stimmten ihre Interessen oft nicht mehr überein. Ganze Bereiche seines Lebens in London kümmerten sie kaum, dazu gehörte auch sein Engagement gegen Rassismus. Er war schon seit langem für eine Anti-Rassismus-Gruppe tätig, für das Camden Committee for Community Relations, kurz CCCR , und seine freiwillige Arbeit dort, die Leitung eines Teams für Kommunalarbeit, war ihm wichtig geworden. Durch sie lernte er eine Stadt kennen, über die er zuvor nur wenig gewusst hatte, das London der Immigranten, ein London der Benachteiligungen und Vorurteile, eine sichtbare, doch ungesehene Stadt , wie er sie später nennen sollte. Die Immigrantenstadt lag vor aller Augen in Southall, in Wembley und in Brixton, auch in Camden, doch hat man ihre Probleme damals größtenteils ignoriert, falls es nicht gerade zu Eruptionen rassistischer Gewalt kam. Diese Blindheit war gewollt; man entschied sich, die Stadt, die Welt, wie sie in Wahrheit war, einfach nicht zu sehen. Er opferte einen Großteil seiner Freizeit für diese Arbeit und schrieb, aufbauend auf seine Erfahrungen bei der CCCR für die Reihe Opinions beim Channel 4 eine polemische Sendung mit dem Titel ›Das neue Empire in Großbritannien‹, ein Versuch, das Entstehen einer Unterschicht schwarzer und farbiger Briten zu beschreiben – und es wurde deutlich, dass Clarissa nicht viel für die Vokabeln übrighatte, die er in dieser Sendung benutzte.
Ihr größtes Problem war allerdings eher intimer Natur. Schon seit Zafars Geburt hatten sie, vor allem aber Clarissa, weitere Kinder gewollt, nur kamen die Kinder nicht. Stattdessen kam es zu einer Reihe von Fehlgeburten. Eine Fehlgeburt hatte es schon vor Zafars Empfängnis und Geburt gegeben, danach gab es zwei weitere. Er fand heraus, dass es sich um ein genetisches Problem handelte. Er hatte (vermutlich von väterlicher Seite) ein Leiden geerbt, dass unter der Bezeichnung chromosomale Translokation bekannt war.
Ein Chromosom ist ein Strang genetischer Information. Alle menschlichen Zellen enthalten zweiundzwanzig solcher Paarstränge, dazu ein dreiundzwanzigstes Paar, durch das unser Geschlecht bestimmt wird. In seltenen Fällen löst sich ein Stück genetischer Information von einem Chromosom und heftet sich einem anderen an, weshalb es dann zwei fehlerhafte Chromosomen gibt, eines mit zu wenig und eines mit zu viel genetischer Information. Bei der Empfängnis wird die Hälfte der nach Zufallsprinzip ausgesuchten väterlichen Chromosomen mit der Hälfte der mütterlichen Chromosomen kombiniert, um ein neues Chromosomenpaar zu bilden. Leidet der Vater unter chromosomaler Translokation und beide fehlerhafte Chromosomen werden ausgesucht, wird das Kind zwar normal geboren, erbt aber dieses Leiden. Wird keines der beiden Chromosomen selektiert, verläuft die Schwangerschaft gleichfalls normal, und das Kind erbt dieses Leiden nicht. Wird aber nur eines der beiden Chromosomen ausgewählt, kann der Fötus nicht heranreifen, und es kommt zu einer Fehlgeburt.
Der Versuch, ein Baby zu bekommen, wurde zu einer Art biologischem Roulette. Das Glück war ihnen nicht hold, und der Stress all der Fehlgeburten, all der enttäuschten Hoffnungen zermürbte sie beide. Ihre körperliche Beziehung fand ein Ende. Sie konnten einfach
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