Joseph Anton
den Gedanken an einen weiteren Versuch, an ein weiteres Scheitern, nicht ertragen. Und vielleicht war es für Clarissa schlicht menschenunmöglich, ihm keine Vorwürfe zu machen, weil sie ihren Traum von einer großen Familie aufgeben musste, den Traum von vielen um sie herumwuselnden Kindern, die zum Inhalt ihres Lebens wurden. Er fand es sogar unmöglich, sich nicht selbst Vorwürfe zu machen.
Vermutlich ist jede langjährige Beziehung, in der es keinen Sex mehr gibt, zum Scheitern verurteilt. Während dreizehn ihrer vierzehn gemeinsamen Jahre war er ihr bedingungslos treu geblieben, aber im vierzehnten Jahr brach ihr Treuebund oder er verschliss, jedenfalls kam es zu Treuebrüchen, zu kurzen Affären auf Lesereisen nach Kanada und Schweden und zu einer längeren Affäre in London mit einer Geige spielenden Freundin aus seiner Zeit in Cambridge. (Clarissa wurde ihm nur einmal untreu, und das war lange her, 1973, damals, als er noch an Grimus schrieb, und obwohl sie kurz daran dachte, ihn für ihren Liebhaber zu verlassen, gab sie den anderen Mann bald wieder auf, und sie beide vergaßen diesen Zwischenfall, zumindest so gut sie konnten. Den Namen seines Rivalen sollte er jedoch nie vergessen; er lautete, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag: Aylmer Gribble.)
Damals war er sich idiotensicher gewesen, seine Affäre so gut zu verbergen, dass seine Frau nichts davon wusste und nichts ahnte. Im Nachhinein erstaunte es ihn, wie er nur so eingebildet sein konnte. Natürlich wusste sie Bescheid.
Er fuhr allein nach Australien, um am Literaturfestival in Adelaide teilzunehmen und Bruce Chatwin anschließend in die australische Wüste zu begleiten. In einem Buchladen in Alice Springs entdeckte er die Taschenbuchausgabe von Robyn Davidsons Spuren , einem Bericht ihres Trecks durch die Wüste Gibson, begleitet von selbst aufgezogenen und trainierten Kamelen. Liz Calder, seine Lektorin bei Cape, hatte ihm das Buch bei Erscheinen und dessen furchtlose Autorin empfohlen, doch hatte er abschätzig erwidert: »Warum zu Fuß durch eine Wüste laufen, wenn man mit dem Airbus drüber wegfliegen kann?« Jetzt aber sah er die Gegend, die das Buch beschrieb, also kaufte er es und war beeindruckt. »Du solltest sie kennenlernen, wenn du nach Sydney fährst«, sagte Bruce. »Komm, rufen wir sie an. Ich habe ihre Telefonnummer.« »Natürlich hast du die«, antwortete er. In Bruce’ berühmtem Moleskin-Adressbuch waren die Telefonnummern aller Menschen auf Erden, die es je zu etwas gebracht hatten. Hätte man ihn nach der geheimen Privatnummer der Königin von England gefragt, er hätte sie sofort gefunden.
Robyn, blond, blauäugig, stets sorgenvoll, überhaupt nicht sein Typ, lud ihn zum Abendessen in ihr Häuschen nach Annandale ein, und beide traf es wie der Blitz. Als Robyn das Brathähnchen aus dem Ofen holen wollte, war es noch kalt. Sie war so abgelenkt gewesen, dass sie vergessen hatte, den Ofen einzuschalten. Ihre drei Jahre währende Affäre begann am nächsten Morgen und war das genaue Gegenteil seiner langen, ruhigen, meist glücklichen Beziehung zu Clarissa. Sie fühlten sich sehr zueinander hingezogen, passten eigentlich aber gar nicht zusammen. Sie schrien sich fast jeden Tag an.
Robyn nahm ihn mit ins australische Outback, und er, die Stadtmaus, war tief davon beeindruckt, wie sie in der Wildnis überleben konnte. Sie schliefen unter Sternen und wurden nicht von Skorpionen gestochen, von Kängurus aufgefressen oder von der alten, riesigen Traumzeit-Urahnin im Tanz platt gestampft. Was für ein ungewöhnliches Geschenk. Sie überführten ihre Kamele von einer ›Station‹, einer Ranch im australischen Nordwesten nahe Shark Bay (wo er mit Delfinen schwamm und ein ganz aus Muscheln erbautes Haus sah), zu ihrer neuen Unterkunft auf dem Besitz eines Freundes südlich von Perth. Er lernte zweierlei über Kamele. Erstens: Kamele sind hemmungslos inzestuös; das Baby der Herde war das Resultat einer recht unkomplizierten Liaison zwischen einem männlichen Kamel und dessen Mutter. (Das inzestuöse Kamel erhielt seinen Namen, zumindest dessen australische Variante: ›Selman, das Kamel‹.) Und zum Zweiten lernte er: Wenn ein Kamel sich ärgert, ändert sich die Scheiße von trocknen, harmlosen Kügelchen in eine flüssige Masse, die vom aufgebrachten Dromedar über eine beträchtliche Entfernung ausgeschissen werden kann. Man sollte also nie hinter einem schlecht gelaunten Kamel stehen. Das waren zwei wichtige
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