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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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dem Gedanken, dass ihm das gerade recht war. Wenn er schon einen letzten Versuch wagte, seinen Traum wahr werden zu lassen, dann nicht mit einem auf Nummer sicher gehenden, konservativen, mittelmäßigen kleinen Buch. Nein, er wollte sich der größten künstlerischen Herausforderung stellen, die er sich nur denken konnte, und das war sie, dieser noch unbetitelte Roman, ›Sinai‹, nein, schrecklicher Titel, da würde man glauben, es ginge um den Nahostkonflikt oder die Zehn Gebote, ›Kind der Mitternacht‹, nur würde es mehr als ein Kind geben müssen, denn in der Mitternachtsstunde konnten viele Kinder geboren werden, Hunderte, gar Tausende oder ja, warum nicht, tausendundeins, also ›Kinder der Mitternacht‹? Nein, langweilig, klang, als träfen sich Pädophile zum Hexensabbat, aber … Mitternachtskinder ? Ja!
    Der Vorschuss für Grimus belief sich auf die fürstliche Summe von siebenhundertfünfzig Pfund; außerdem waren die Rechte an der Übersetzung zweimal verkauft worden, nach Frankreich und nach Israel, so dass er achthundertfünfundzwanzig Pfund auf der Bank hatte; also holte er tief Luft und schlug Clarissa vor, dass er seinen einträglichen Job bei Ogilvys aufgab und sie zusammen nach Indien fuhren, um dort zu bleiben, solange das Geld eben reichte, dass sie möglichst billig reisten, sich einfach auf die unerschöpfliche indische Wirklichkeit einließen, damit er in tiefen Zügen aus diesem Füllhorn trinken konnte, um dann heimzukehren und darüber zu schreiben. »Ja«, antwortete sie spontan. Er liebte sie für ihre Abenteuerlust, für ebendiese Einstellung, die sie vom mütterlicherseits gutgeheißenen Mr Leworthy aus Westerham in Kent fort- und in seine Arme getrieben hatte. Ja, sie würden alles auf eine Karte setzen. Clarissa hatte ihn bis hierher unterstützt und würde nun nicht damit aufhören. Gemeinsam begaben sie sich auf ihre indische Odyssee, schliefen in billigen Herbergen, unternahmen zwanzigstündige Busreisen, bei denen ihnen Hühner auf die Füße kotzten, stritten sich mit Bewohnern von Khajuraho, die den berühmten Tempelkomplex mit seinen tantrischen Schnitzereien obszön und nur was für Touristen fanden, entdeckten Bombay und Delhi neu, wohnten bei Freunden der Familie und auch bei einem offenkundig ungastlichen Onkel mit seiner frisch angetrauten, noch ungastlicheren australischen Frau, die zum Islam übergetreten war und es nicht erwarten konnte, dass sie wieder verschwanden, um dann, viele Jahre später, einen Brief zu schreiben und ihn um Geld anzubetteln. Er entdeckte das Witwenhotel in Benares und ging in Amritsar zum Park Jallianwala Bagh, dem Schauplatz von General Dyers berüchtigtem ›Massaker‹ von 1919, und flog, randvoll mit Indien, zurück, um sein Buch zu schreiben.
    *
    Fünf Jahre später hatten er und Clarissa geheiratet, ihr Sohn Zafar war zur Welt gekommen, der Roman fertig, und er hatte einen Verleger gefunden. Während einer Lesung stand eine Inderin auf und sagte: »Danke, Mr Rushdie, danke dafür, dass Sie mir meine Geschichte erzählt haben«, und er spürte einen Kloß in der Kehle. Eine andere Inderin während einer anderen Lesung sagte: »Mr Rushdie, ich habe Ihren Roman Mitternachtskinder gelesen. Es ist ein ziemlich dickes Buch, aber egal, ich habe es bis zu Ende gelesen. Und meine Frage ist folgende: Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« Ein Journalist aus Goa sagte: »Sie hatten Glück, dass Ihr Buch zuerst rauskam«, und zeigte ihm das getippte Kapitel seines eigenen Romans über einen Jungen, der in Goa zur selben Mitternachtsstunde geboren wurde. The New York Times Book Review schrieb, der Roman lese sich, als hätte ›ein Kontinent zu seiner Stimme gefunden‹, und viele literarische Stimmen Südasiens, die in den Myriaden Sprachen des Subkontinents schrieb en, reagierten darauf mit einem lauten ›ach ja?‹. Vieles geschah, von dem er nicht einmal zu träumen gewagt hatte, Preise, Bestsellerruhm, und überhaupt, er wurde bekannt. Indien schloss das Buch ins Herz und reklamierte den Autor für sich, gerade so, wie er gehofft hatte, das Land wieder für sich reklamieren zu können, was ihm mehr als jeder von einer Jury vergebene Preis bedeutete. Am Tiefpunkt seiner Karriere hatte er eine ›Sesam öffne dich‹-Tür gefunden, die nach oben ins helle Licht führte. Später, nach Khomeinis Fatwa, würde er noch einmal an diesen Tiefpunkt zurückkehren und dort erneut die Kraft zum Weitermachen finden, die Kraft, noch deutlicher er selbst

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