Joseph Anton
Thomas’ Dankesrede nicht vorlesen zu müssen. Sie nahm die Rede aus ihrer Handtasche und wedelte mit dem Umschlag herum: »Ich weiß gar nicht, was ich jetzt damit machen soll«, sagte sie. »Geben Sie sie mir«, erwiderte er spitzbübisch, »ich pass schon darauf auf.« Und sie hatte so viel getrunken, dass sie ihm den Gefallen tat. Eine halbe Stunde lang steckte Thomas’ Dankesrede in seiner Tasche. Dann meldete sich sein Gewissen, und er suchte die beschwipste Verlegerin, um ihr den ungeöffneten Umschlag zurückzugeben. »Das hier sollten Sie lieber wieder an sich nehmen«, sagte er.
Er präsentierte seiner Verlegerin Liz Calder die prachtvolle, ledergebundene Preisausgabe von Mitternachtskinder und schlug sie auf, um ihr das Exlibris zu zeigen, auf dem GEWINNER stand. Sie war so glücklich und überdreht, dass sie ein Glas Champagner drübergoss, um es zu ›taufen‹. Die Buchstaben verliefen ein wenig, und er rief entsetzt: »Jetzt sieh doch, was du getan hast!« Einige Tage später schickten ihm die Booker-Leute ein neues, druckfrisches Exlibris, aber da war ihm das getaufte Exlibris mit den Siegesflecken bereits ans Herz gewachsen. Er sollte es nie austauschen.
Und die guten Jahre begannen.
*
Er hatte sieben gute Jahre, mehr als so manch einem Schriftsteller vergönnt sind, und in der nachfolgenden schlimmen Zeit sollte er für diese Jahre stets dankbar sein. Zwei Jahre nach Erscheinen von Mitternachtskinder publizierte er Scham und Schande , den zweiten Teil jenes Diptychons, in dem er sich mit der Welt seiner Herkunft auseinandersetzte – ein Roman, den er bewusst als formales Gegenstück zu seinem Vorläufer konzipierte und in dem es überwiegend nicht um Indien, sondern um Pakistan ging, kürzer, der Plot straffer, nicht in der ersten, sondern in der dritten Person geschrieben, statt eines einzigen, dominierenden Antihelden-Erzählers eine Reihe von Figuren, die eine nach der anderen die Bühne beherrschten. Auch war dieses Buch nicht mit Liebe geschrieben, hegte er doch wilde, sarkastische und sehr persönliche Gefühle für Pakistan, dieses Land, in dem die korrupten Wenigen über die machtlosen Vielen regierten, wo sich bestechliche zivile Politiker und skrupellose Generäle verbündeten, einander ablösten und ermordeten, ein Spiegelbild des Rom der Cäsaren, wo irrsinnige Tyrannen mit ihren Schwestern schliefen, Pferde zu Senatoren ernannten und auf der Geige fiedelten, während ihre Stadt brannte. Für den einfachen Römer aber – und auch für den einfachen Pakistani – änderte das mörderische, psychotische Chaos im Palast gar nichts. Der Palast blieb der Palast, die herrschende Klasse herrschte weiterhin.
Pakistan war der große Fauxpas seiner Eltern, der Fehler, der ihn das Haus seiner Kindheit kostete. Ihm fiel es leicht, Pakistan selbst als historischen Fauxpas zu sehen, als ein ungenügend imaginiertes Land, der fehlgeleiteten Idee entsprungen, eine Religion könne Volksstämme zusammenhalten (Punjabi, Sindhi, Bengali, Belutschen und Pathanen), die durch Geografie und Geschichte lang getrennt waren, ein Land, geboren als missgebildeter Vogel, »zwei Flügel ohne Leib, von der Landmasse seines größten Feindes getrennt, geeint durch nichts als Gott«, ein Land, dessen östlicher Flügel bald abfallen sollte. Wie hört es sich an, wenn nur ein Flügel flattert? Die Antwort auf diese Version eines berühmten koan des Zen lautet zweifellos ›Pakistan‹. In Scham und Schande , seinem pakistanischen Roman (eine vereinfachende Zuordnung, gab es doch jede Menge Pakistan in Mitternachtskinder und ziemlich viel Indien in Scham und Schande ) war der Humor schwärzer, die Politik blutrünstig komisch, so als ob, sagte er sich, Narren die Katastrophen in den Palästen der zwölf Cäsaren oder in einer Tragödie Shakespeares durchlebten, Menschen, die großen Tragödien unwürdig waren – als führten Clowns König Lear auf, zugleich als Tragödie und als Farce, eine Zirkuskatastrophe. Das Buch schrieb sich in einem Tempo, das ihm neu war; nachdem er fünf Jahre für Mitternachtskinder gebraucht hatte, beendete er Scham und Schande nach nur anderthalb Jahren. Und auch dieser Roman wurde überall wohlwollend aufgenommen, zumindest fast überall. In Pakistan wurde er, wie nicht anders zu erwarten, vom Diktator Zia ul-Haq verboten, dem Vorbild für ›Raza Hyder‹ im Roman. Trotzdem fanden viele Exemplare ihren Weg ins Land, davon nicht wenige, so erzählten ihm pakistanische Freunde, in den
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