Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
Tage dem Vater vor; denn tat er’s nicht, so kam dieser selbst, am langen Stab, aus der Hüfte hinkend, zu ihm herüber, um nach ihm zu sehen – und dies alles, obgleich, wie Benjamin wohl wußte, und wie es sich auch in des Greises schwankendem Benehmen gegen ihn ausdrückte, Jaakobs Empfindungen für ihn eigentlich sehr geteilt und aus Habsorge und Nachträgerei sonderbar gemischt waren, da er im Grunde nicht aufhörte, den Muttermörder und das Mittel in ihm zu sehen, dessen sich Gott bedient hatte, um ihm Rahel zu nehmen.
Einen gewaltigen Vorzug freilich hatte Benoni vor allen noch lebenden Brüdern, außer, daß er der Jüngste war; und dieser Vorzug mochte für Jaakobs träumerisch-assoziierenden Sinn ein Grund mehr sein, ihn immer zu Hause zu halten; er war zu Hause gewesen, als Joseph umkam in der Welt, und wie wir Jaakob kennen, hatte sich diese Gleichung von Zu-Hause-sein und von Unschuld, von Ganz-bestimmt-nicht-beteiligt-gewesen-sein an einer draußen geschehenen Untat, in seinem Kopfe symbolisch festgesetzt, also daß Benjamin ständig zu Hause sein mußte, zum Zeichen und Dauerbeweise dieser Unschuld und dafür, daß er allein, der Jüngste, nicht unter den immerwährenden, den immer still nagenden Verdacht fiel, den Jaakob hegte, und von dem die anderen wußten, daß er ihn hegte, zu recht, wenn auch unrichtig. Es war der Verdacht, daß der Eber, der Joseph zerrissen, ein Tier mit zehn Köpfen gewesen sei; und Benjamin mußte »zu Hause« sein zum Zeichen, daß es elf Köpfe nun einmal bestimmt nicht gehabt habe.
Vielleicht auch nicht zehn, Gott wußte es, er mocht’ es für sich behalten, und auf die Dauer, wie Tage und Jahre sich mehrten, verlor die Frage an Wesentlichkeit. Sie tat das vor allem dadurch, daß Jaakob, seit er aufgehört hatte, mit Gott zu hadern, allmählich zu der Auffassung gelangt war, nicht Jener habe ihm das Isaaksopfer gewaltsam auferlegt, sondern aus freien Stükken habe er’s dargebracht. Solange der erste Schmerz wütete, hatte diese Idee ihm ganz und gar fern gelegen; nur grausamst mißhandelt war er sich vorgekommen. Wie aber der Schmerz sich legte, Gewöhnung sich einstellte, der Tod seine Vorteile geltend machte – daß Joseph nämlich geborgen war als ein ewig Siebzehnjähriger in seinem Schoß und Schutz –, hatte die weiche, pathetische Seele sich ernstlich einzubilden begonnen, sie sei der Opfertat Abrahams fähig gewesen. Zu Gottes Ehren geschah diese Einbildung und zu seinen eigenen. Nicht wie ein Unhold hatte Gott ihn beraubt und ihm tükkisch das Liebste entwendet, sondern nur angenommen hatte er, was man ihm dargeboten wissentlich und in Heldenmut – das Liebste. Glaubt es oder nicht, dies machte Jaakob sich vor und bezeugte es sich um seines Stolzes willen, daß er in der Stunde, als er Joseph nach Schekem entließ auf die Reise, das Isaaksopfer vollbracht und freiwillig, aus Liebe zu Gott, den Allzugeliebten dahingegeben habe. Er glaubte es nicht immer – zuweilen gestand er sich mit Zerknirschung und unter wiederfließenden Tränen, daß er nie und nimmer fähig gewesen wäre, sich für Gott den Teueren vom Herzen zu reißen. Aber der Wunsch, es zu glauben, obsiegte zuweilen; und machte er es nicht mehr oder weniger gleichgültig, wer Joseph zerstückelt hatte?
Der Verdacht – gewiß, er war trotzdem da, er nagte, aber doch nur noch leise und nicht zu jeder Stunde; zuweilen schlief er in späteren Jahren und beruhte auf sich. Die Brüder hatten sich das Leben unterm Verdacht, unterm halbfalschen Verdacht, elender vorgestellt, als es denn schließlich doch war. Der Vater stand gut mit ihnen, es war nicht anders zu sagen. Er sprach mit ihnen und brach mit ihnen das Brot; er nahm an ihren Geschäften und an den Freuden und Sorgen teil ihrer Hütten, er sah sie an, und nur zuweilen, nur zeitweise in schon recht großen Abständen trat das Glimmen, die Falschheit und Trübnis des Verdachtes in seinen Greisenblick, vor der sie, in der Rede stockend, die Augen niederschlugen. Aber was wollte das sagen? Die Augen schlägt wohl ein Mensch schon nieder, wenn er nur weiß, daß der andere Argwohn hegt. Es muß nicht Schuldbewußtsein bedeuten; auch züchtige Unschuld und Mitleid mit dem am Mißtrauen Kranken mag sich darin ausdrücken. So wird man zuletzt des Verdachtes müde.
Man läßt ihn schließlich auf sich beruhen, besonders wenn seine Bestätigung, vom einmal Geschehenen nicht zu reden, auch an der Zukunft, an der Verheißung, an allem, was ist und
Weitere Kostenlose Bücher