Jud Sueß
darin lag, sich dehnend und verträumt, ein Mädchen, nach fremder Sitte gekleidet, mattweißes Gesicht unter blauschwarzem Haar. Der Magister stand still, starrte rundäugig, demütig, machte sich auf Zehen wieder fort. In Zukunft aber schlich sich in seine Vorstellungen vom himmlischen Jerusalem das Bild des Mädchens im Zelt vor dem sehr weißen Haus mit den Tulpen.Rabbi Gabriel ließ dem Mädchen jede Freiheit. Naemi blühte still und sanft und ohne viel Begehren. Sie hatte den alten, mürben, schweigsamen Diener und ihre holländische Zofe Jantje, die nun auch schon viele Jahre gutmütig, ergeben, geschwätzig und besorgt um sie herumwirtschaftete. Manchmal hätte sie gerne Menschen gesehen; aber da der Oheim sie fernhielt, war es wohl besser so. Geträumte Menschen, gelesene Menschen waren besser als die unten lebenden.
Sie erging sich mit Lust in den Büchern, die der Oheim mit ihr las. Es waren zumeist hebräische Bücher, die vieldeutigen, geheimnisvollen der Kabbala darunter. Sie dachte sie nicht, sie sah sie. Der kabbalistische Baum, der himmlische Mensch waren ihr wirkliche, greifbare Dinge. Es tanzten die Buchstaben-Ziffern des Gottesnamens einen heiligen Tanz, sie hatten ihre bunten, schimmernden Fahnen, es regten sich mit vielen Gliedern die Figuren der heiligen Wissenschaft, es klommen die Dreiecke, es sanken die Vierecke, es sprang von Gipfel zu Gipfel der fünfzackige Stern. Aber die Sieben- und Neunecke reckten viele Glieder, spießten bedrohlich nach einem, umschmiegten einen lieblich. Und alles schlang sich in vielwendigem, artigem Tanz.
Es lehrte der Oheim: Jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe der Schrift hat seinen heimlichen Sinn. Er öffnet sich, wenn du die Worte vergleichst mit anderen Stellen der Schrift, wenn du den Zahlenwert der Buchstaben zu neuen Gebilden destillierst. Sieh, hier ist Papier und ein wenig Schwärze darauf. Und ist lebendiger als ein lebendiger Mensch, ist sprechender Mund für die Ewigkeit. Ist dies nicht das Wunder der Wunder? Vor vielen tausend Jahren dachte einer, fühlte einer diesen Satz. Der Mund, der ihn zum erstenmal sprach, ist tot, das Hirn ist tot, das ihn zum erstenmal dachte. Aber seine Hand schrieb ihn nieder, und da er ihn niederschrieb, strömte Gott in die Buchstaben, und du denkst sie, spürst sie heute, nach den vielen tausend Jahren. In dem Geschriebenen ist Gott. Buchstaben leben, weben sich, Buchstab zu Zahl, Zahl zu Klang, in Ewigkeit. Was einer schreibt, das löst sich von ihmund lebt sein eigenes Wesen fort und spricht zu jedem andern. Aber wer sich heiligt, empfindet Gott in allem Geschriebenen.
So lehrte Rabbi Gabriel. Naemi hörte, mühte sich zu begreifen. Aber die heiligen Geschichten formten sich nur auf Augenblicke zu den strengen, mystischen Abgezogenheiten, die der Oheim ihnen abrang. Dann kehrten sie zurück und bekamen Farben und Fleisch und wurden in dem Blut des Mädchens zu bunten, lieblichen Fabeln und zu heroischen Abenteuern.
Sie las im Hohenlied: Mein Geliebter hebt an und spricht: Auf, meine Schäferin! Meine Schöne! Auf und komm! Sieh, der Winter ist vorbei. Junge Blüten erscheinen am Boden, die Zeit des Sangs ist da, der Turteltaube Stimme tönt in unserm Land. Auf, meine Schäferin! Meine Schöne! Komm! Meine Taube! Taube im Felsenriß, auf heimlichem Hang! Laß mich schauen deine Gestalt! Laß mich deine Stimme hören! Denn deine Stimme ist süß und lieblich deine Gestalt.
Sie saß, zart und aufmerksam, und glitt mit erfüllten Augen über die großen, blockigen, hebräischen Buchstaben. Das Gesicht, sehr weiß wie das des Vaters, drehte sich auf schlankem, stolzem Hals, die Augen trugen uralte Träume, den Kopf hatte sie in die Hände gestützt, sanft rundeten sich aus zarten Gelenken die Arme.
Rabbi Gabriel erklärte, was sie da gelesen habe, deute die Schöpfung der Welt, und die Blumen seien die Erzväter, und die Stimme der Jünglinge, welche die Geheimnisse der Schrift lernen, erwirke, daß die Welt sich erhalte und die Erzväter sich offenbaren. Und er legte es auseinander und wieder zusammen, mit viel Tiefe und Scharfsinn; und schließlich versank er und verstummte. Sie hörte gläubig zu; aber kaum hatte er geendet, so wurden die Blumen wieder Blumen, und sie hörte die einfache, süße Melodie: Der Winter ist vorbei, der Regen flieht und ist vorbei. Junge Blüten erscheinen am Boden, die Zeit des Sangs ist da, der Turteltaube Stimme tönt in unserm Land. Und sie schließt die Augen und hört auf die
Weitere Kostenlose Bücher