Judasbrut
Dunkelheit des Waldes. Das Tor war nicht
abgeschlossen.
»Warten
Sie hier!«, wies Georg sie vor der Haustür an.
Frierend
und mit geschlossenen Augen tat Nina es. Was blieb ihr anderes übrig? Mit einem
Mal flammte innen Licht auf. Nach einem Rumoren hörte sie, wie sich ein
Schlüssel im Schloss drehte, dann schwang die Haustür mit leisem Knarren auf,
mit ihr ein Schwall abgestandener Luft.
»Darf
ich bitten?«
»Wie
sind Sie reingekommen?«
»Auf
der Rückseite des Hauses war ein Fenster nicht richtig verschlossen.«
Nina
rührte sich nicht. »Sie sind jetzt aber nicht hier eingebrochen, oder?«
Georg,
der gerade seine nasse Jacke auszog und an einen Haken hängte, zwinkerte Nina
zu. Sein leichter Silberblick gab dem kantigen Gesicht einen eigenwilligen
Charme. Das sehr kurz geschorene Haar wirkte dunkel, mit ein wenig grau
durchsetzt. Erst jetzt fiel Nina auf, dass er genau so groß war wie sie. Er war
drahtig, wirkte eher kräftig als dick und die forschen Bewegungen, mit denen er
einen alten Lappen aus einem Schrank holte und unter seine tropfende Jacke
legte, unterstrichen den militärischen Eindruck seines Erscheinungsbildes.
»Kennen
Sie die Leute, denen das hier gehört?«
»Die
Eigentümer haben bestimmt nichts dagegen, dass wir hier sind.«
Nina
gab ein zweifelndes Geräusch von sich.
»Nun
kommen Sie schon rein, es ist ungemütlich draußen.« Da sie immer noch keine
Anstalten machte sich zu bewegen, zog Georg sie kurzerhand hinein. Dabei
steckte er den Kopf hinaus und wandte ihn von links nach rechts. Dann schloss
er die Tür ab. Nina fühlte sich unbehaglich. »Woher haben Sie den Schlüssel?«
Demonstrativ
hängte er ihn neben ein halbes Dutzend anderer in ein Kästchen neben der Tür.
»Oh … «
»Sie
müssen dringend aus den nassen Sachen raus, sonst werden Sie noch krank«,
erklärte er kategorisch und schob Nina vor sich her.
Einige
Sekunden später stand Nina in einem winzigen, altmodischen Bad mit blassgelben
Fliesen und einem schmalen Fenster. Die Toilette besaß sogar noch einen
Spülkasten mit Strick. Neben dem Waschbecken hing eine Handbrause an der Wand.
Zögernd drehte Nina den Warmwasserhahn auf, aber wie befürchtet war das Wasser
eiskalt. Sie schälte sich bis auf die Unterwäsche aus ihren nassen Klamotten,
während sie nebenbei in einem schmalen Einbauschrank neben dem Waschbecken nach
etwas kramte, mit dem sie sich abtrocknen konnte. Die dünnen, ordentlich
geplätteten Handtücher hatten ein Muster, das vor Jahrzehnten modern gewesen
sein mochte, und deren Geruch Nina an ihre Großmutter erinnerte. Ein Handtuch
um ihren Kopf geschlungen, rubbelte sie kräftig über ihre Haut, um die
Durchblutung anzuregen.
»Ich
habe etwas für Sie zum Anziehen gefunden«, hörte sie Georgs raue Stimme von
draußen.
Nina
hielt sich das Handtuch vor den Körper und spähte durch einen Türspalt. Georg
reichte ihr einen schwarz-weiß gestreiften Herren-Morgenmantel im Stil der
60er.
»Danke!«
Bevor
sie das Bad verließ, hängte sie ihre nassen Sachen auf. Allerdings bezweifelte
sie, dass sie trocknen würden und der bloße Gedanke, sie sich später überstreifen
zu müssen, verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie fand Georg in einem Raum auf der
Rückseite des Hauses, den eine schummrige Lampe in ein diffuses Licht tauchte.
Hier wirkte es ebenfalls, als wäre die Zeit vor einigen Jahrzehnten stehen
geblieben.
»Ob das
hier ein Wochenendhaus ist?« Neugierig sah sie sich um.
Georg,
der gerade mit seinem Rucksack beschäftigt war, warf einen Blick über seine
Schulter. »Dort auf dem Sofa liegt eine Wolldecke.«
Nina
nahm Platz. Obwohl von der Decke ein muffiger, abgestandener Geruch ausging und
sie sich ein wenig klamm anfühlte, wickelte sie sich hinein. Wenigstens war ihr
nicht mehr kalt. Georg nahm einen Apfel aus seinem Rucksack, schnitt ihn
entzwei und bot Nina ein Stück an.
»Nein,
danke.«
Herzhaft
biss er ein Stück ab, während er kauend zu einem Schrank ging.
Nina
überlegte, ob sie Jens Bescheid geben sollte. Seine Nummer hatte sie
höchstwahrscheinlich auf einem Zettel in ihrer Geldbörse, auswendig wusste sie
die nicht. »Ich würde gern meinen Mann anrufen. Er wird sich Sorgen machen, wo
ich bleibe, aber der Akku an meinem Handy ist leer. Darf ich vielleicht Ihres
benutzen?«
Georg
lächelte unverbindlich. »Hier gibt es keinen Empfang.«
»Ach
so«, sagte Nina, unsicher, ob sie ihm das glauben sollte. »Ich sollte nicht
allzu lange bleiben. Wo sind wir jetzt
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