Judassohn
trotz allem bewunderten, hatten ihm den Titel
Lord Mayor
gegeben: Oberbürgermeister.
Er sog schlürfend den Tee ein, genoss den Geschmack und die Wärme.
Ich sollte nach Leipzig reisen und Illicz stellen. Er wird mirvielleicht sagen können, was mit meinem Schwert geschehen ist.
Die Gedanken kreisten um die Vergangenheit, die jüngere und die ältere. Er prostete seinem Spiegelbild mit der Tasse zu.
Bevor ich es vergesse: Alles Gute zum Geburtstag! Zweihundertzehn Jahre, Harm Byrne.
Dass er überhaupt noch lebte, schob er auf den Umstand, dass er ungewollt zweierlei Dämonenpakte eingegangen war. Er vermutete, dass jeder Höllenfürst seine Seele für sich allein haben wollte. So gewährten sie ihm das lange Leben, bis sie sich darüber geeinigt hatten, wer ihn später einmal im Jenseits foltern durfte.
Darauf könnt ihr lange warten, ihr Wichser.
Bislang hatte er sein Dasein als Harm Byrne effektiv genutzt. In ihn waren die besten Eigenschaften von Tanguy, Dominic und Sandrine eingeflossen; dazu kamen ein Übermaß an krimineller Energie und eine Rücksichtslosigkeit, von der selbst hartgesottene Verhaltenspsychologen beeindruckt gewesen wären. Er hatte gemordet, Exempel statuiert, blieb gleichzeitig im Hintergrund und geheimnisvoll, hatte Pubs und Nachtclubs hochgezogen, mit denen er jedes Jahr Millionen von Pfund verdiente. »Untherapierbar«, würden die Verhaltenspsychologen sagen.
Alle dachten, dass er seinen Feinden und Widersachern die Kehle aufschlitzte; dabei saugte er sie einfach nur aus. Notwendigkeit und Angenehmes ließen sich perfekt verbinden – und da er genug Feinde und Widersacher besaß, ging ihm der Lebenssaft nicht aus. Die IRA, die mafiösen Organisationen verschiedenster Länder und andere Verbrecher hatten es auf ihn abgesehen. Harm verteidigte sein Territorium gegen jegliche Kriminellen.
Sollen sie ihr Glück weiterhin versuchen. Ich überstehe jeden ihrer Anschläge.
Er trank den Tee aus und kehrte zum Stövchen zurück, goss sich nach und ging zum Fenster, um auf London hinabzuschauen.
Seine Einnahmen waren wichtig. Das Geld investierte er gleich wieder in die Jagd auf alte Bücher, in denen es um Dämonen und Pakte ging. Er kam sich ab und zu wie Johnny Depp in »Die neun Pforten« vor, nur war ihm klar, dass er in keinem Film mitspielte. Alles, was er wollte, war Freiheit – und nicht grenzenlose Macht, wie manche Schriften in Aussicht stellten. Sein Imperium genügte ihm.
Bei dem Treffen im Club, auf das ihn Wilson hingewiesen hatte, würde es genau darum gehen.
Harm sah aus den Augenwinkeln, dass das grüne Lämpchen an seinem Headset leuchtete. Er hatte es ausgezogen und auf den Schreibtisch gelegt. Einhändig stöpselte er es ein und nahm den Anruf entgegen. »Ja?«
»Lord Mayor, hier ist Stevens«, sagte der Geschäftsführer seines Clubs
Bunnock
. »Es geht um das Meeting. Es sind schon alle da. Die Stimmung ist nicht die beste.«
»Das bedeutet?« Er nippte am Tee.
»Die Yakuza-Typen sind auf die Russen nicht gut zu sprechen, weil sie einen von ihnen vor einer Stunde in die Bordsteinrinne getreten haben. Ich habe sie weit auseinandergesetzt und ihnen die Waffen abgenommen, aber wenn
die
eine Schlägerei anfangen, gibt es garantiert Tote.« Stevens sprach ruhig, doch mit Dringlichkeit. »Es wäre gut, Lord Mayor, wenn Sie bald auftauchen könnten.«
»Danke, Stevens. Ich komme.« Harm verzog den Mund. »Sagen Sie den Ladys und Gentlemen, dass ich sie alle umbringen werde, wenn sie auf meinem Grund und Boden einen Kampf beginnen. Alle.« Er drückte das Gespräch weg. Japaner und Russen wussten, dass er keine Scherze machte.
Scheißungeduld.
Er ärgerte sich, dass er nicht länger in der Vergangenheit verweilen durfte, und klickte die Programme am Rechner weg. Nach dem Meeting würde er weitersuchen.
Beim Runterfahren blitzte ein Bild auf, das er vergessen hatte zu schließen: ein Frauengesicht um die dreißig, das vor Mareks kantigen Zügen zu sehen war. Anscheinend hatte der Vampir sie beschattet.
Ich kenne sie!
Harm war versucht, den Computer wieder zu aktivieren, aber er sah die Japse und die Russkies genau vor sich, in ihren engen Sakkos, die unter der Muskelmasse zu platzen drohten. Wie sie sich anstarrten und warteten, dass jemand zuckte.
Dann später. Aber ich kenne sie. Von sehr viel früher …
Er eilte zum Fahrstuhl, nahm sich den langen schwarzen Mantel vom Haken. Auf die kurzen dunklen Haare drückte er die Militärkappe und setzte eine
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