Judassohn
im besten Fall zwei Tote: Scylla und Illicz.
Er hetzte mit dem Koffer zum Fahrstuhl.
Ich werde den Mustang nehmen. Er ist am schnellsten.
Auch wenn er den Eurotunnel an sich hasste, in dieser Nacht war Harm froh, dass es ihn gab.
Winter, Deutschland,
Sachsen, Leipzig
Harm stellte fest, dass er die kalten Winter nicht mehr gewohnt war.
Die vielen Jahre auf der Insel hatten ihn vergessen lassen, dass die Temperaturen auf dem Festland und dazu noch im Osten durchaus niedriger waren als in London.
Verfluchtes Kontinentalklima. Es gab schon einen Grund, war um ich es in Irland und England besser fand.
Dennoch musste Harm einräumen, dass Leipzig Charme besaß. Gerade das Zentrum war optimal, es hatte alles, was man brauchte, von Kultur bis zu Einkaufsmöglichkeiten, und war mit einer Prise Sehenswürdigkeiten versehen.
Und genau dort war auch die Moritz-Bastei, vor der er nun stand. Er ging die Treppen zum Innenhof hinunter, vorbei an den Backsteinwänden, und stellte sich unter die aufgespannten Schirme, wo die Raucher ihrem Laster nachgingen. Durch die Scheiben sah er sie.
Da ist sie. Eine Türsteherin.
Scylla stand in der Nähe des Eingangs, trug einen Ledermantel und die langen schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten. Mit einem Kollegen zusammen überprüfte sie die Besucher, die ins Innere zu einem Konzert wollten. Der Kleidung nach waren es Gothics und ein paar Punks, wie es auch viele in England gab. Harm kannte die schwarze Szene, konnte ihr jedoch nicht viel abgewinnen.
Er beobachtete sie.
Auch sie schien wie er kaum gealtert zu sein, was er auf die Formel für die Unsterblichkeit zurückführte, die sie angeblich besaß.
Mich schützt der Streit zweier Dämonen, dich die Alchimie.
Sie lachte und plauderte zwischendurch mit dem anderen Rausschmeißer und nahm ihm die Kippe ab, als er sich eine anstecken wollte. Anscheinend war sie besorgt um seine Gesundheit.
Es gab viele Gründe, warum Illicz sie aufsuchen würde. Aber da er sie beim ersten Zusammentreffen nicht getötet hatte, schloss Harm Rachsucht aus.
Plötzlich verließ sie ihren Posten und kam in den Innenhof. Ihrem Gesicht nach zu urteilen beschäftigte sie ein Gedanke sehr.
Dann spürte er plötzlich eine Präsenz.
Er sah zur Treppe, die Illicz eben heruntergestiegen kam. Er trug auffälliges Weiß. Die Gothics bemerkten ihn, manche Damen tuschelten aufgeregt miteinander. Der Judassohn schob unbestritten eine Aura der Düsternis vor sich her, die die Farbe seiner Kleidung Lügen strafte.
Niemals hat es finsterere Helligkeit gegeben. Die weiße Maske mit den schwarzen Strichen und Bemalungen würde ihm gut stehen und die Wirkung perfektionieren. Die Gothics würden vor ihm davonlaufen. Nicht das Schlechteste, was man tun kann.
Harm stützte sich auf den Tisch und achtete darauf, dass genügend andere Menschen vor ihm standen, um ihn zu verdecken. Dann setzte er seine vampirischen Kräfte ein, um sein Gehör empfindlicher zu machen. Falls sie Worte wechselten, wollte er wissen, was gesprochen wurde.
Er sah Scylla an, dass sie von seinem Erscheinen völlig überrascht wurde.
Es ist zu laut hier!
Harm fand es furchtbar, dass er nur Bruchstücke des Gesprächs vernahm, doch er wagte es nicht, näher an die beiden heranzugehen. Noch sollte niemand wissen, dass es ihn gab.
Aus den aufgeschnappten Brocken schloss er, dass Illicz sie dazu zwingen wollte, mit ihm zurückzukehren und die Kinder des Judas, die Cognatio und alles, was damit zusammenhing, wieder erstehen zu lassen. Sie beide an der Spitze einer neuen Dynastie. Sein Oheim dachte, Scylla sei die Letzte ihrer Art.
Anscheinend hält er mich für tot. Gut!
Es dauerte nur wenige Minuten, und der Judassohn ging in den Veranstaltungssaal, als wäre er ein alter, harmloser Konzertbesucher und Fan der Gruppe.
Harm war unschlüssig, was er tun sollte. Illicz und Scylla jetzt zu töten erschien ihm zu früh.
Ich folge ihr. Entweder ich sehe, was die beiden gemeinsam auf die Beine stellen, und ich schlage zu, wenn beide sich ihrem Ziel nahe sehen … oder sie wird ihn umbringen. Anschließend werde ich sie vernichten.
Meine Rache ist mir sicher.
Harm wartete. Scylla verließ die Moritz-Bastei bald darauf.
Fortan hatte sie einen zweiten Schatten.
23. Dezember 2007,
in der Nähe von Belgrad
Da vorne kommt ein Wald.
Harm lenkte den Mustang über die verschneite Straße und folgte Scylla, die sich einen Geländewagen geliehen hatte.
Weiter kann ich ihr auf diese Weise nicht
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