Judassohn
von ihnen suchten nach einem Weg hineinzugelangen. Manche nahmen die Gestalt von dunklen Faltern und schwarzen Spinnen an, um sich durch die kleinsten Lücken zu zwängen. Sie verdunkelten den Schnee rund um die Ruine, krochen und flatterten, liefen übereinander, um zu Scylla und Illicz zu gelangen.
Es wird immer spannender!
Harm wollte sich sinken lassen, um besser zu sehen, als es leuchtend hell um ihn wurde und ein heißer Schmerz von Kopf bis Fuß durch ihn jagte. Ein Blitz hatte ihn getroffen und sorgte dafür, dass er seine Konzentration verlor.
Sein Flug endete.
Wie ein Stein stürzte er ab, wurde sichtbar und krachte durch die Wipfel, riss mehrere Äste ab. Harm machte sich so klein wie möglich, damit ihm nicht das Genick oder Rückgrat gebrochen wurde; mehrmals durchbohrten ihn Äste und Zweige, dann schlug er auf dem Waldboden auf.
Fuck.
Ächzend blieb er liegen. Aus weiter Ferne hörte er das Donnern und Krachen der Blitze. Scylla attackierte die untote Armee anscheinend mit Hilfe der Naturgewalten.
Fuck!
Seine gebrochenen Gliedmaßen heilten allmählich. Irgendwann fühlte er sich so weit hergestellt, dass er sich aufsetzte unddie blutigen Holzstücke aus seinem Körper zog. Er hatte durch seine Wunden viel Blut verloren und exzessiv auf seine Vampirkräfte zurückgegriffen. Das machte seinen Durst unermesslich; gleichzeitig fehlte ihm die Energie, seine Fertigkeiten weiterhin anzuwenden. Keine Unsichtbarkeit, kein Fliegen, keine Windgestalt. Eine leere Batterie.
Fuck.
Er sah zum Himmel, wo sich das Unwetter beruhigt hatte.
Ich habe den Ausgang der Schlacht verpasst! Und ich liege ganz am Rand des Waldes.
Harm rannte los. Als er einen anspringenden Motor vernahm, änderte er die Richtung. Jemand entfernte sich in Scyllas Geländewagen!
Sie hat überlebt. Das darf nicht sein!
Ihr Tod hatte für ihn außer Frage gestanden. Er beeilte sich, strauchelte und fiel mehrmals. Keuchend erreichte er den Waldrand und sah die Scheinwerfer in weiter Entfernung durch die Nacht gleiten. Von Osten her war der Himmel aufgerissen, Mond und Sterne funkelten friedlich, als habe es die Schlacht an der Mühle gar nicht gegeben.
Harm sparte sich den Weg zur Ruine. Er wusste, ohne einen Hauch Zweifel zu spüren:
Da sie lebt, sind alle anderen tot. Auch Illicz.
Deswegen musste er rasch zurück, nach Leipzig, und zu Ende bringen, was die Vampire hier nicht geschafft hatten.
Der Sprint durch den Wald hatte ihm den Rest gegeben. Harm marschierte schleppend zu seinem Auto und legte sich auf die Motorhaube.
Er wartete darauf, dass ein Wagen mit möglichst vielen Insassen kam, der ihm bei verschiedenen Dingen helfen konnte: erstens, seinen schrecklich quälenden Durst zu bekämpfen, und ihm zweitens den fahrbaren Untersatz zu überlassen, damit er seinen Wagen aus dem Graben ziehen konnte.
Ich warte am kalten Arsch der Welt, dass das Essen zu mir kommt. Großartig gemacht, Harm Byrne. Bald bin ich wohl hinüber.
Er schaute zu den Sternen. Seine Unruhe nahm zu, sein Mund trocknete aus, der Schlund schien zu verdorren wie ein wasserloser Halm.
Fuck …
Es vergingen fürchterliche anderthalb Stunden und elf Sternschnuppen, als sich ein Kleinbus näherte.
Harm war unglaublich gereizt. Die Kehle hatte er in seiner Verzweiflung schon mit Schnee gekühlt. Doch nur Blut half richtig. Und es kam zu ihm. Freiwillig.
Diesen Wunsch haben mir die Gestirne schon mal erfüllt! Bleiben noch zehn.
Harm drückte sich von der Motorhaube des Mustangs ab und stellte sich mit erhobenen Händen mitten auf die Fahrbahn. Was sollte ihm schon Besonderes passieren? Im schlimmsten Fall überfuhren sie ihn, und er müsste sich im Gestänge festhalten und über die Rückseite sowie durch die Heckscheibe einsteigen.
Zu seinem Glück hielt der uralte VW Bulli jedoch an.
»Dobro veče«, sagte er und blinzelte in die Scheinwerfer. Falls er trotz des Gegenlichts richtig sah, saßen sieben Personen in dem Wagen. Mindestens dreißig Liter Blut.
***
KAPITEL II
26. Februar 2008,
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Harm stellte das Fernglas schärfer und sah ins Wohnzimmer der Eckwohnung schräg gegenüber.
Na, wo steckt ihr? Keiner da?
Er hatte den Plan geändert. Denn Scylla lebte noch immer, und das nicht, weil er beschlossen hatte, sie zu verschonen. Ganz im Gegenteil. Sein Hass auf die Frau, die ihm das Leben geschenkt und ihm im Tod ein viel grausameres Schicksal beschert hatte, war größer geworden und hatte auf zwei Menschen
Weitere Kostenlose Bücher