Judith McNaught
Westmoreland erfahren,
und sie fand jedes einzelne Detail ihres neuerworbenen Wissens und die
Schlußfolgerungen, die sie daraus zog, abscheulich. Entgegen dem, was Whitney
dachte, war Stephen Westmoreland offensichtlich ein Wüstling, ein Lebemann,
ein Genußmensch und ein notorischer Schürzenjäger. Seine Liebesaffären waren
Legion, und die Society, die ihn anscheinend vergötterte, duldete
stillschweigend seine Ausschweifungen. Jeder – absolut jeder – dachte
offenbar, daß ein Heiratsantrag von ihm direkt nach der Krone von England kam!
Und, noch schlimmer, obwohl er mit ihr verlobt war, hatte er eine Geliebte –
und zwar keine gewöhnliche Geliebte, sondern eine Dame aus der eleganten
Kurtisanenwelt, die den Berichten zufolge mit atemberaubender Schönheit
glänzte.
Und so kam sich Sherry unbedeutend,
erschreckt und gedemütigt vor, als sie in den Ballsaal zurückkehrte. Mit wü
tender Ausgelassenheit begann sie, ihre bis dahin brachliegenden
Flirtfähigkeiten zu erproben. Sie lächelte den Gentlemen, die sich in Scharen
um eine aufgeregte Miss Charity, die auf ihre Rückkehr wartete, drängten,
fröhlich zu, und in den nächsten beiden Stunden versprach sie mindestens zwei
Dutzend Tänze an Herren, die ebenfalls noch zu Rutherfords Ball eingeladen
waren. Ihr Verlobter kam weder näher, noch schien er ihre Flirttriumphe
wahrzunehmen. Er stand einfach nur da und beobachtete sie von der Seite her mit
gleichgültiger, ungerührter Miene.
Er wirkte in der Tat so vollkommen
unbeteiligt, daß sie keinerlei Bedenken hatte, als er schließlich zu ihr kam
und erklärte, es sei nun an der Zeit, zu den Rutherfords zu gehen, und es
schien ihm auch nichts auszumachen, mit Nicholas DuVille und Miss Charity auf
die Kutschen zu warten, die sie dorthin bringen sollten. Er lächelte sogar
freundlich, als Miss Charity ganz aufgeregt bemerkte: »Sherry hatte soviel
Erfolg, Langford. Ich kann es gar nicht abwarten, Ihrer Mama und Ihrer
Schwägerin heute abend noch zu erzählen, wie wundervoll alles gelaufen ist.«
Nicholas DuVille hatte sie in einem
eleganten Landauer mit offenem Verdeck abgeholt, aber als die luxuriöse Stadtkutsche
des Earl of Langford vorfuhr, weiteten sich Sherrys Augen. Ein Gespann von
sechs nahezu identischen, außerordentlich schönen Grauschimmeln in silbernem
Geschirr zog eine glänzend schwarz lackierte Kutsche mit dem Wappen des Earls
auf dem Schlag. Sherry hatte die Kutscher und Lakaien in der Küche des Hauses
in der Upper Brook Street kennengelernt, aber heute abend trugen sie die
formelle Livree mit weißen Lederbreeches, flaschengrün gestreiften Westen und
flaschengrünen Jacken mit goldenen Knöpfen und Tressen. Mit ihren glänzenden
schwarzen Stiefeln, den weißen Hemden, schneeweißen Halstüchern und weißen
Handschuhen sahen sie nach Sherrys Meinung mindestens genauso elegant aus wie
die Gentlemen im Almack's, und das sagte sie ihnen auch.
Ihr aufrichtiges Kompliment brachte
ihr ein stolzes Lächeln von den Bediensteten und einen erschreckten Blick von
Miss Charity ein, da jedoch der Gesichtsausdruck des Earls sich nicht im geringsten
veränderte, verspürte Sherry das leise Prickeln einer unbehaglichen Vorahnung.
Als sie dann merkte, daß er beabsichtigte, mit ihr allein zu dem Ball der
Rutherfords zu fahren, sträubte sie sich. »Ich möchte lieber mit Miss Charity
und Monsieur DuVille fahren«, äußerte sie bestimmt und wandte sich schon zu
deren Kutsche.
Zu ihrem Entsetzen schloß sich seine
Hand wie ein Schraubstock um ihren Ellenbogen, und er zwang sie zu der offenen
Tür seiner Kutsche. »Steigen Sie ein!« herrschte er sie in einem gräßlichen
Tonfall an. »Bevor Sie ein noch größeres Schauspiel aus sich machen, als Sie es
heute abend bereits getan haben.«
Sherry merkte erst jetzt, daß
Stephen Westmoreland hinter der glatten Fassade ungerührter Blasiertheit rasend
zornig war, und sie warf Miss Charity und Nicholas DuVille, die bereits
einstiegen, einen ängstlichen Blick nach. Da noch einige andere Gruppen aus dem
Almack's auf ihre Kutschen warteten, wollte sie keine sinnlose Szene machen
und stieg ein.
Er kletterte nach ihr hinein und
knurrte dem Lakai, der die Stufen hochklappte, einen Befehl zu: »Fahren Sie den
langen Weg, durch den Park.«
Sherry saß ihm gegenüber und drückte
sich unbewußt tiefer in die luxuriösen silbernen Samtpolster. In gespanntem
Schweigen wartete sie auf den unvermeidlichen Wutausbruch. Er starrte mit
zusammengepreßtem Kiefer aus dem
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