Judith McNaught
Sherry
wirbelte herum und rannte los. Sie floh die Treppe hinunter und fiel fast über
einen Lakaien. Tränen traten ihr in die Augen bei dem Gedanken, daß Stephen
in einer Stunde in diese Halle treten und denken würde, er dürfte gleich
heiraten. Aber dann würde seine Braut ihn schon verlassen haben. Ihr Herz
hämmerte, und sie lief in die Bibliothek, kritzelte eine Nachricht für ihn und
vertraute sie dem niedergeschlagenen alten Butler an.
Dann riß sie die Tür auf, rannte die
Treppe hinunter auf die Strafe und verschwand um die Ecke.
Sie rannte und rannte, bis sie nicht
mehr konnte, und dann lehnte sie sich an die Wand eines Hauses und lauschte
einer Stimme aus ihrer jüngsten Vergangenheit – einer geliebten Stimme –, einer
geliebten Stimme, die ihr Dinge erklärte, die einer Frau, die er nie
kennengelernt hatte, nie widerfahren waren: »Als wir das letzte Mal zusammen
waren, haben wir uns gestritten. Ich dachte nicht mehr an unseren Streit,
solange Sie krank waren, aber als Sie sich an dem Abend wieder auf dem Wege der
Besserung befanden, merkte ich, daß es noch noch in mir nagte.«
»Worüber haben wir uns gestritten?«
»Ich hatte das Gefühl, Sie schenkten
einem anderen Mann zuviel Aufmerksamkeit schenkten. Ich war eifersüchtig.«
Ein weiterer Schock durchfuhr
Sherry. Langsam wanderte sie die Strafe entlang und starrte blind auf eine
vorbeifahrende Kutsche. Er war gar nicht eifersüchtig gewesen. Seine Stimmung
hatte sich in dem Moment verhärtet, als sie ihn gefragt hatte, ob sie »sehr
verliebt ineinander« seien.
Weil sie nie ineinander verliebt
gewesen waren.
Vor Verwirrung und Schock wurde sie
fast besinnungslos.
Neununddreißigstes Kapitel
Stephen grinste Colfax an, als er die
Eingangshalle betrat. Er war bereits formell für seine Hochzeit gekleidet. »Ist
der Vikar schon da?«
»Ja, Mylord, im blauen Salon«, sagte
der Butler mit einem Gesichtsausdruck, der in Anbetracht des festlichen
Ereignisses seltsam niedergeschlagen wirkte.
»Ist mein
Bruder bei ihm?«
»Nein, er
wartet im Wohnzimmer.«
Da er seine Braut nicht vor der
Zeremonie sehen durfte, fragte Stephen: »Kann ich hinein?«
»Jawohl.«
Stephen ging beschwingt die
Eingangshalle hinunter zum Wohnzimmer. Dort stand Clayton mit dem Rücken zur
Tür und blickte auf den leeren Kamin. »Ich bin zu früh«, begann Stephen.
»Mutter und Whitney kommen in ein paar Minuten. Hast du Sherry gesehen? Braucht
sie noch ...«
Clayton wandte sich um, und sein
Gesichtsausdruck war so unheilverkündend, daf Stephen mitten im Satz abbrach.
»Was ist los?« fragte er.
»Sie ist
weg, Stephen.«
Unfähig zu reagieren, starrte
Stephen ihn in grenzenlosem Unglauben an.
»Sie hat das hinterlassen«, sagte
Clayton und hielt ihm ein gefaltetes Stück Papier hin. »Und eine junge Frau
wartet hier und möchte dich sprechen. Sie behauptet, sie sei die echte Charise
Lancaster«, fügte Clayton hinzu, und sein Tonfall bei dieser letzten Bemerkung
klang so, als hielte er die Behauptung für wahr und nicht für lächerlich.
Stephen entfaltete den kurzen,
zusammenhanglosen Brief, der offensichtlich in Eile geschrieben worden war, und
jedes einzelne der unglaublichen Worte schien sich mitten in seine Seele zu
brennen.
Wie Sie bald von der echten Charise
Lancaster erfahren werden, bin ich nicht die, für die Sie mich hielten. Und
auch nicht die, die ich selbst zu sein dachte. Bitte glauben Sie mir. Bis zu
dem Augenblick, in dem Charise Lancaster heute früh in mein Schlafzimmer trat,
konnte ich mich an nichts erinnern, was mich betraf, außer dem, was man mir
nach dem Unfall erzählt hatte. Jetzt, wo ich weiß, wer ich bin und was ich bin,
sehe ich ein, daß eine Ehe zwischen uns wahrscheinlich unmöglich ist. Ich
fürchte auch, daß Charises Darstellung dessen, was ich erreichen wollte, für
Sie wahrscheinlich viel glaubwürdiger klingt, als das, was ich Ihnen jetzt
schreibe.
Das würde mich mehr verletzen, als
Sie sich vorstellen können. Ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll mit dem
Wissen, daß Sie irgendwo auf dieser Welt Ihr Leben leben und für alle Zeiten
glauben, ich sei eine Betrügerin und Intrigantin. Aber Sie werden das nicht
glauben, ich weiß, daß Sie es nicht glauben werden.
Sie hatte das letzte Wort
durchgestrichen und den Brief einfach nur unterschrieben:
Sheridan
Bromleigh
Sheridan
Bromleigh.
Sheridan. Im schmerzlichsten Augenblick seines
Lebens, mit ihrem Brief in der Hand und den unglaublichen Worten, die ihm nie
mehr
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