Judith McNaught
Gefühlsaufruhrs
wurde Stephen schlagartig klar, daß das Mädchen, das ihm mit Tränen in den
Augen und mit vor hilfloser Wut geballten Fäusten gegenübersaß, nun zwei
äußerst schlechte Nachrichten erfahren mußte. In seiner gegenwärtigen Stimmung
fühlte er sich nicht danach, dies aufzuschieben. Er hatte diese ganzen Lügen
und seine eigenen unglückseligen Bemühungen, Sherry Nachrichten zu ersparen,
die sie noch nicht einmal etwas angingen, satt, und so mäßigte er seine Stimme
und sagte lakonisch: »Burleton ist tot.«
»Tot?« stöhnte Charise in echter
Verzweiflung auf. Ihre geheime Hoffnung, Burleton könnte sie vielleicht doch
noch zur Frau nehmen, wenn sie nur Morrison irgendwie loswürde, zerbrach in
tausend Stücke. »Wie?« flüsterte sie entsetzt, holte ein Spitzentaschentuch
aus ihrem Retikül und preßte es an die Augen.
Stephen sagte es ihr und konnte
sehen, wie ihr Gesicht zusammenfiel. Sie log auch jetzt nicht, stellte er
fest. Sie war völlig verzweifelt.
»Mein armer Vater. Ich wußte nicht,
wie ich ihm je wieder unter die Augen treten sollte, nachdem diese Bromleigh
mir eingeredet hatte, mit Mr. Morrison wegzulaufen. Ich fühlte so große Angst,
daß ich ihm bis jetzt noch nicht einmal geschrieben habe. Ich werde nach Hause
fahren!« beschloß Charise und dachte sich dabei schon eine plausible Lüge aus,
um ihren Vater dazu zu überreden, sie zurückzunehmen und ihr eine Scheidung,
eine Eheannullierung, oder was auch immer sie benötigte, zu erkaufen. »Ich
werde direkt nach Hause fahren.«
»Miss Lancaster«, sagte Stephen, und
es kam ihm so seltsam, so häßlich vor, diese Frau bei einem Namen zu nennen, der
doch eigentlich zu Sherry gehörte, »ich besitze einen Brief für Sie vom Anwalt
Ihres Vaters. Er wurde von Burletons Vermieter an mich weitergeleitet.«
Stephen schob seine eigenen Probleme einen Augenblick lang beiseite, schloß die
Schreibtischschublade auf, zog den Brief und den Scheck heraus und hielt ihn
ihr zögernd hin. »Leider handelt es sich um keine guten Nachrichten.«
Ihre Hand zitterte, als sie den
Brief las und auf den Scheck blickte, dann hob sie langsam den Kopf und sah ihn
aus glasigen Augen an. »Ist das alles an Geld, was ich besitze?«
Ihre finanzielle Situation betraf
Stephen nicht, da sie Burleton offensichtlich durchgebrannt war und auf der
Reise nach England jemand anderen geheiratet hatte, aber es war natürlich seine
Aufgabe, sie zum Schweigen zu bringen. »Ohne damit andeuten zu wollen, daß ich
glaube, Sheridan Bromleigh habe absichtlich Ihren Platz eingenommen«, erwiderte
er, »wäre ich bereit, Ihnen eine größere Summe zu geben, um ... sagen wir,
Ihre mißliche Lage zu erleichtern ..., wenn Sie dafür Schweigen über die ganze
Angelegenheit bewahren.«
»Wie groß?«
Stephen verabscheute sie in diesem
Moment. Er verabscheute die Vorstellung, sie auszuzahlen, um sie davon abzuhalten,
das Ganze überall herumzuerzählen. Aber wenn es herauskäme, würde dies zu einem
Skandal führen, der sich über ganz England ausbreiten dürfte. Er verabscheute
sich selbst dafür, daß sich leise Zweifel in ihm rührten über Sherrys Absicht,
in ein paar Stunden wieder zurückzukehren. Ihr Brief war kein endgültiges
Lebewohl, sondern eine flehende Bitte gewesen – eine hysterische Bitte von
einem reizenden, erschöpften Mädchen, das Angst hatte, er würde ihr nicht
zuhören und ihr nicht glauben. Sie war weggelaufen, um ihm Zeit zu geben, sich
wieder zu beruhigen, falls er Charise glauben sollte.
Sie würde zurückkommen, verwirrt,
entsetzt und empört; sie würde zurückkommen und ihm gegenübertreten. Sie hatte
ein Recht auf seine Antworten und Erklärungen, warum er so getan hatte, als sei
er Burleton. Deshalb würde sie zurückkommen. Sie besaß genügend Charakter, um
ihm entgegenzutreten. Sie besaß so verdammt viel Charakter.
Das sagte er sich immer und immer wieder,
während er zusah, wie Charise Lancaster mit einer riesigen Geldsumme, die er
ihr bezahlt hatte, ging. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Er starrte auf
die Straße und hielt Ausschau nach seiner Braut ... Sie würde zurückkehren und
alles erklären. Er sah gerade zu, wie Charise Lancaster in eine Mietdroschke
stieg, als sein Bruder eintrat und ihn ruhig fragte: »Was hast du vor?«
»Warten.«
Zum ersten Mal in seinem Leben
fühlte sich Clayton Westmoreland völlig hilflos, und zögernd fragte er: »Soll
ich den Vikar nach Hause schicken?«
»Nein«, entschied Stephen.
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