Judith McNaught
aber ihre Kopfschmerzen wurden vom
Sprechen anscheinend nicht schlimmer. Als ihr das klar wurde, drängte es sie,
selbst Fragen zu stellen. »Wo bin ich?«
»Sie sind in Sicherheit.«
»Wo?« beharrte sie.
»Sie sind in England. Sie kamen mit
dem Schiff aus Amerika.«
Aus irgendeinem Grund bereitete ihr
diese Antwort Unbehagen und Traurigkeit.
»Warum?«
Die beiden Männer wechselten einen
Blick, dann antwortete der Doktor beruhigend: »Das wird Ihnen zu gegebener
Zeit alles wieder einfallen. Machen Sie sich jetzt deswegen keine Gedanken.«
»Ich ... ich will es wissen«,
beharrte sie. Ihr Flüstern klang rauh vor Anspannung.
»Nun gut, mein Kind«, stimmte er
sofort zu und tätschelte ihren Arm. Mit einem zögernden Lächeln, als
überbrächte er ihr eine freudige Nachricht, sagte er: »Sie sind hierhergekommen,
um ihren Verlobten zu treffen.«
Einen Verlobten. Offensichtlich war
sie jemandem versprochen ... dem anderen Mann, mutmaßte sie, weil er sie so besorgt
ansah. Besorgt und erschöpft. Sie blickte zu dem jüngeren Mann und lächelte
ihn schwach und tröstend an, aber er blickte mit gerunzelter Stirn auf den
Arzt, der aus irgendeinem Grund warnend den Kopf schüttelte. Das Stirnrunzeln
beunruhigte sie ebenso wie der warnende Blick des Arztes, aber sie wußte nicht,
warum. Es paßte zwar nicht recht, aber in diesem Augenblick, wo sie weder
wußte, wer, noch wo sie war oder wie sie hierhergekommen war, fiel ihr spontan
ein, daß man sich immer dafür entschuldigen sollte, wenn man anderen
Unannehmlichkeiten bereitet. Sie kannte dieses Gesetz der Höflichkeit, als sei
es tief in ihr verankert – instinktiv, unumgänglich und drängend.
Sherry erlag diesem überwältigenden
Drang, und als ihr Verlobter zu ihr hinsah, sagte sie mit leiser, zitternder
Stimme: »Es tut mir leid.«
Er zuckte zusammen, als täten ihre
Worte ihm weh, und dann hörte sie, zum ersten Mal, wie sie meinte, seine Stimme
– tief, vertrauenerweckend und unglaublich sanft. »Entschuldigen Sie sich
nicht. Alles wird gut werden. Sie brauchen nur ein bißchen Zeit und Ruhe.«
Das Sprechen strengte sie immer mehr
an. Erschöpft schloß Sherry die Augen und hörte, wie die Männer sich anschickten,
zu gehen. »Warten Sie ...«, gelang es ihr zu sagen. Plötzlich überfiel sie
eine ganz irrationale Angst bei dem Gedanken, allein zu bleiben und wieder in
die dunkle Leere, die schon an ihr zerrte, zu versinken und nie wieder daraus
auftauchen zu können. Sie sah die beiden Männer an und richtete dann ihren
flehenden Blick auf ihren Verlobten. Er war der Stärkere der beiden, jünger,
vitaler – er würde die Dämonen in ihrem Kopf mit seiner Willenskraft in Schach
halten, wenn sie wieder zurückkommen sollten, um sie zu quälen. »Bleiben Sie«,
flüsterte sie mit letzter Anstrengung. »Bitte.« Als er zögernd den Doktor
ansah, benetzte Sherry ihre aufgesprungenen Lippen und preßte nach einem
angestrengten Atemzug alle Gedanken und Gefühle, die in ihr tobten, in einem
einzigen Wort heraus: »Angst.«
Ihre Augenlider waren schwer wie
Blei und schlossen sie, ohne daß sie es wollte, wieder von der Welt der
Lebenden aus. Panik stieg in ihr auf und raubte ihr die Luft.
Doch dann hörte sie das scharfe
Kratzen von Stuhlbeinen auf dem polierten Holzboden, und sah, wie ein schwerer
Sessel neben das Bett geschoben wurde.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«,
sagte ihr Verlobter.
Sherry streckte ihre Hand auf der
Bettdecke ein wenig nach vorne, wie ein Kind, das blindlings Zuflucht bei den
Eltern sucht. Eltern, an die sie sich nicht einmal erinnern konnte. Lange,
männliche Finger schlossen sich mit beruhigendem Griff um ihre Hand. »Hasse ...
Angst«, murmelte sie.
»Ich werde Sie nicht allein lassen.
Ich verspreche es.«
Sheridan klammerte sich an seine
Hand, seine Stimme und sein Versprechen und nahm sie mit in ihren tiefen, traumlosen
Schlaf.
Stephens Brust schmerzte vor
Schuldgefühlen und Angst, während er zusah, wie sie immer tiefer in Schlummer
sank. Ihr Kopf war komplett einbandagiert und ihr Gesicht leichenblaß, am
stärksten aber erschütterte ihn, wie klein sie in diesem großen Bett zwischen
all den Kissen und Decken aussah.
Sie hatte sich entschuldigt, und
dabei hätte er sich entschuldigen müssen, nicht nur für den Tod ihres
Verlobten und das Ende ihrer Träume, sondern auch für diese mißliche Lage. Er
kannte die Gefahren auf einem Pier, und doch hatte er sich, und damit auch sie,
direkt unter eine Seilwinde
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