Judith McNaught
gestellt. Und um das Maß vollzumachen, hatte er so
ausschließlich auf ihre Reaktion auf Burletons Tod geachtet, daß er das
Ladenetz, das direkt auf sie zuschwang, gar nicht gesehen hatte. Zudem hatte er
nicht rechtzeitig auf den Warnruf des Schauermanns reagiert. Und wenn er ihr
seine Mitteilung nicht so unverblümt und tölpelhaft gemacht hätte, daß sie einen
solchen Schock erlitt, dann hätte sie selbst reagieren können, und ihr wäre
nichts passiert.
So wie die Dinge lagen, hatte er sie
in Gefahr gebracht. Er hatte nicht nur als Beschützer versagt, sondern zudem
auch noch verhindert, daß sie sich selbst schützte. Wenn sie starb, war das
ganz allein seine Schuld, und er wußte, daß er mit diesem Bewußtsein nicht
würde weiterleben können. Dabei quälten ihn ohnehin schon Tag und Nacht
Schuldgefühle, weil er den Tod des jungen Burleton verursacht hatte.
Ihre Atmung veränderte sich
plötzlich, und Angst ergriff ihn. Er hielt den Atem an, bis ihr Brustkob sich
wieder in einem ruhigeren Rhythmus hob und senkte. Dann erst atmete er wieder
aus und blickte auf die Hand, die vertrauensvoll in seiner lag. Ihre Finger
waren lang, anmutig und weich, die Nägel jedoch sehr kurz geschnitten – eine
aristokratische Hand, die offensichtlich einer jungen Dame mit einer Neigung
zu Ordnung und zum Praktischen gehörte.
Er hob den Blick zu ihrem Gesicht,
und wäre er nicht halb verrückt vor Angst und halb tot vor Übermüdung gewesen,
hätte er gelächelt. Er fragte sich, wie sie wohl bei ihrer nüchternen und praktischen
Veranlagung ihr eigenes Gesicht einschätzte. An diesem weichen, großzügigen
Mund war nichts Nüchternes, und an diesen unglaublich langen, gebogenen
Wimpern, die wie Schatten auf ihren Wangen lagen, war nichts Praktisches. Er
kannte zwar weder die Farbe ihrer Haare noch die ihrer Augen, ihre hohen
Wangenknochen jedoch waren perfekt geformt und ihre elfenbeinfarbene Haut
schimmerte fast durchscheinend. Im Gegensatz zu ihren Gesichtszügen, die ein
Musterbeispiel für zerbrechliche Weiblichkeit zu sein schienen, deutete ihr
festes, kleines Kinn auf Willensstärke hin. Nein, verbesserte sich Stephen, es
zeugte wahrscheinlich mehr von Mut. Sie hatte trotz Angst und Schmerzen bislang
nicht geweint; ihre Aussage, Angst zu hassen, bedeutete, daß sie dieses
demütigende Gefühl eher bekämpfte als daß sie ihm nachgab.
Sie besaß zweifellos Mut, entschied
er, und sie war freundlich – jedenfalls freundlich genug, um sich dafür zu
entschuldigen, daß sie ihm Sorgen bereitete. Mut und Freundlichkeit – eine
bemerkenswerte Kombination bei jeder Frau, vor allem jedoch bei einer so
jungen.
Aber sie war auch schrecklich
verletzlich, stellte er mit erneuter Panik fest, als ihr Brustkorb sich
plötzlich wieder keuchend hob und senkte. Er drückte ihre Hand fester, sah, wie
sie nach Luft rang, und Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. 0 Gott! Sie lag im
Sterben! »Bitte nicht!« flüsterte er drängend. »Bitte stirb nicht!«
Zehntes Kapitel
Heiles Sonnenlicht flutete durch die
grünen Vorhänge am anderen Ende des Zimmers, als Sherry wieder die Augen aufschlug.
Ihr Verlobter saß in einem Sessel neben dem Bett. Er schlief fest, hielt aber
immer noch ihre Hand. Irgendwann in der Nacht hatte er wohl seine Jacke und
sein Halstuch abgelegt und seinen Kragen geöffnet. Dann war er mit dem Kopf
auf den Armen eingeschlafen. Sein Gesicht lag direkt vor ihr, und Sherry drehte
vorsichtig den Kopf auf dem Kissen. Als die leichte Bewegung nicht sofort
wieder das Hämmern in ihrem Schädel auslöste, seufzte sie erleichtert auf.
In der friedlichen Benommenheit, die
sie nach dem tiefen Schlaf erfüllte, studierte sie träge den Mann, mit dem sie
verlobt war. Er hatte einen leicht braunen Teint, stellte sie fest, als ob er
sich häufiger im Freien aufhielte. Sein dichtes Haar war tief dunkelbraun und
so genau geschnitten, daß es an den Seiten flach anlag und kaum bis an den
Hemdkragen reichte. Jetzt standen seine Haare vom Schlaf zerwühlt kreuz und
quer, und wie er so dalag, mit langen schwarzen Wimpern, die bis an seine
Wangen stießen, hatte er etwas liebenswert Jungenhaftes an sich. Sonst war
allerdings absolut nichts an ihm jungenhaft, und bei dieser Entdeckung verspürte
sie eine Mischung aus Faszination und unerklärlichem Unbehagen. Dunkle
Stoppeln bedeckten sein kantiges Kinn, das sogar im Schlaf hart und resolut
wirkte. Er hatte seine geraden, dunklen Brauen in einem finsteren
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