Judith McNaught
zurechtkomme, wenn ich daran glaube, daß
es nur eine vorübergehende Unzulänglichkeit ist. Am besten gehen wir alle so
damit um.«
»Ich halte das für eine
ausgezeichnete Idee.«
»Ich möchte Sie jedoch ein paar
Dinge fragen.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Oh, das Übliche«, antwortete sie
lachend. »Wie alt bin ich? Habe ich einen zweiten Vornamen?«
Stephens Verteidigung brach
zusammen, und er war hin- und hergerissen zwischen dem wilden Bedürfnis, über
ihren wundervollen, tapferen Sinn für Humor zu lachen, und dem noch wilderen
Bedürfnis, sie vom Sofa zu reißen, mit seinen Händen in diese Flut leuchtenden
Haares einzutauchen und seine Lippen auf ihre zu drücken. Sie war ebenso
reizend wie unschuldig, und in diesem Gewand und der Vorhangschnur wirkte sie
verführerischer als jede seiner prächtig angezogenen – beziehungsweise
ausgezogenen – Mätressen.
Burleton muß ganz verrückt danach
gewesen sein, sie in sein Bett zu bekommen, dachte er. Kein Wunder, daß er sie
gleich am Tag nach ihrer Ankunft heiraten wollte ...
Stephens angenehme Betrachtung ihrer
körperlichen Reize wurde abrupt durch Schuldgefühle unterbrochen, und Scham
fraß an ihm wie Säure. Burleton, nicht er, sollte ihr eigentlich
gegenübersitzen. Burleton sollte diesen intimen Moment mit ihr genießen und
sie so sehen, barfuß auf das Sofa gekuschelt. Burleton allein stand es zu, sie
im Geiste zu entkleiden und daran zu denken, mit ihr ins Bett zu gehen.
Wahrscheinlich hatte er an kaum etwas anderes gedacht, während er auf die
Ankunft ihres Schiffes wartete.
Und statt dessen lag ihr glühender
junger Liebhaber in einem Sarg, und der Mörder genoß den Abend mit seiner
Braut. Nein, berichtigte Stephen sich mit wütendem Abscheu vor sich selbst, er
genoß nicht nur einen angenehmen Abend mit ihr, er begehrte sie sogar. Sein
Verlangen nach ihr war obszön! Es war krank! Wenn er Zerstreuung brauchte,
konnte er unter den schönsten Frauen Europas wählen. Klug oder naiv, witzig
oder ernsthaft, ausgelassen oder schüchtern, blond, brünett oder rothaarig –
er brauchte nur mit den Fingern zu schnippen. Es gab keinen Grund für sein
wildes Verlangen nach dieser Frau, keinen Grund dafür, daß er reagierte wie
ein stürmischer Jugendlicher oder wie ein alternder Wüstling.
Ihre ruhige Stimme riß ihn aus
seinen wütenden Selbstvorwürfen, aber das Ekelgefühl gegen sich blieb. »Was
auch immer es sein mag«, sagte sie halb im Ernst, »ich glaube nicht, daß es
noch sehr lange zu leben hat.«
Stephen blickte sie erstaunt an.
»Wie bitte?«
»Was auch immer Sie in der letzten
Minute über meine linke Schulter hinweg angestarrt haben – ich hoffe, es hat
Beine und kann sehr schnell laufen.«
Er lächelte sie kurz und humorlos
an. »Meine Gedanken sind abgeschweift. Ich bitte um Entschuldigung.«
»Oh, bitte, Sie brauchen sich nicht
zu entschuldigen«, sagte sie mit einem nervösen Lachen. »Ich bin äußerst erleichtert,
daß Sie mit dieser finsteren Miene über etwas anderes nachdenken als über
meine Fragen.«
»Es tut mir leid, aber ich habe die
Fragen völlig vergessen.«
»Mein Alter«, schlug sie hilfreich
vor, wobei sie ihre feingeschwungenen Augenbrauen hob. »Habe ich einen zweiten
Vornamen?« Trotz ihres unbeschwerten Tonfalls merkte Stephen, daß sie ihn sehr
genau beobachtete. Es beunruhigte ihn, wie ihr Blick den seinen suchte, und er
zögerte kurz, weil er immer noch darum kämpfen mußte, seine Aufmerksamkeit auf
das gewünschte Thema zu richten. Sie brach das Schweigen vor ihm, indem sie
einen komischen tiefen Seufzer der Bestürzung ausstieß und ihn mit übertrieben
düsterer Stimme warnte: »Dr. Whitticomb sagte mir, meine Krankheit hieße
Amnesie und sei nicht ansteckend. Es würde mich sehr betrüben, wenn Sie sie
auch hätten, dann wäre ich nämlich nichts Besonderes mehr. Sollen wir mit etwas
Einfacherem beginnen? Vielleicht könnten Sie mir Ihren vollen Namen sagen? Ihr
Alter? Lassen Sie sich Zeit, denken Sie in aller Ruhe über Ihre Antworten
nach.«
Stephen hätte gelacht, wenn er sich
nicht so sehr dafür gehaßt hätte. »Ich bin dreiunddreißig«, sagte er, »Mein
Name ist Stephen David Elliott Westmoreland.«
»Da haben wir doch schon die
Erklärung«, scherzte sie. »Bei so vielen Namen ist es ja kein Wunder, daß Sie
so lange brauchen, bis sie Ihnen alle einfallen.«
Stephen mußte unwillkürlich grinsen,
versuchte es jedoch zu unterdrücken, indem er sie so streng wie möglich
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