Judith McNaught
möglichen Arten weiblicher Zerstreuung gesorgt, die ich mir nur
vorstellen kann, von Büchern über Modeblätter bis hin zu Stickrahmen und
Aquarellfarben.«
»Aber eine 'weibliche Zerstreuung'
haben Sie ihr nicht geboten, und zwar eine, die sie mit Fug und Recht erwarten
kann.«
»Und die wäre?« fragte Stephen,
obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Sie haben ihr nicht die geringste
Unterhaltung mit ihrem Verlobten geschenkt.«
»Ich bin nicht ihr Verlobter!«
»Nein, aber Sie sind unfreiwillig
verantwortlich für die Tatsache, daß sie keinen mehr hat. Es erstaunt mich, daß
Sie das vergessen haben.«
»Ich überhöre diese Beleidigung«,
versetzte Stephen in eisigem Ton, »weil ein alter und derzeit überreizter
Freund der Familie sie ausgesprochen hat.«
Dr. Whitticomb merkte, daß er nicht
nur die falsche Taktik verfolgt hatte, sondern auch zu weit gegangen war. Er
hatte vergessen, daß der kühle, kompromißlose Adlige, der hinter dem
Schreibtisch saß, nicht mehr der mutwillige kleine Junge war, der sich mitten
in der Nacht zu den Ställen schlich, um einen neuen Hengst zu reiten, und dann
tapfer keine Tränen vergoß, als Hugh seinen gebrochenen Arm richtete und ihm
einen Vortrag darüber hielt, daß nur ein Verrückter die Gefahr herausforderte.
»Sie haben ganz recht«, sagte er
milde. »Ich bin durcheinander. Darf ich mich setzen?«
Sein Gegenüber nahm die
Entschuldigung mit einem leichten Nicken an. »Sicher.«
»Wir ... alten Knaben neigen dazu,
rasch zu ermüden«, fügte er hinzu und stellte erleichtert fest, daß sich auf
Stephens Gesicht eine Spur von Erheiterung abzeichnete. Um Zeit zu gewinnen,
wies Hugh auf die Zigarrenkiste aus Messing, die auf dem lederbespannten
Tischchen neben seinem Sessel stand. »Ab und zu überkommt mich das dringende
Bedürfnis nach einer ausgezeichneten Zigarre. Darf ich?«
»Natürlich.«
Als Hugh schließlich die Zigarre
angezündet hatte, war ihm eine bessere Methode eingefallen, Stephen davon zu
überzeugen, wie ernst sich Charise Lancasters Situation darstellte. Er freute
sich, daß nun genug Zeit verstrichen war, um eine etwaige Aufwallung von
Feindseligkeit, die Stephen wegen Hughs ungeschicktem Versuch möglicherweise
empfunden hatte, zu zerstreuen. »Als ich eben oben war«, begann er und blickte
dem dünnen weißen Rauchfaden nach, der sich aus der Zigarre in seiner Hand kräuselte,
»warf sich unsere Patientin jammernd im Bett hin und her.«
Alarmiert wollte Stephen
aufspringen, aber der Arzt hob eine Hand und fügte hinzu: »Sie schlief,
Stephen. Sie träumte. Aber sie fühlte sich ein wenig fiebrig an«, erklärte er
nicht ganz wahrheitsgetreu, schließlich wollte er sein Ziel erreichen. »Mir
wurde auch gesagt, daß sie nicht gut ißt. Sie fühlt sich so einsam und sucht so
verzweifelt nach Antworten, daß sie mit den Mädchen, den Kammerdienern –
einfach mit jedem spricht, der ihr etwas über dieses Haus, über sie selbst oder
über Sie, ihren Verlobten, sagen kann.«
Stephens Schuldgefühl wurde
übermächtig bei diesem lebhaft gezeichneten Bild von Charise Lancasters Leiden,
aber das machte ihn nur noch unnachgiebiger. »Ich bin nicht ihr Verlobter. Ich
bin der Mann, der die Verantwortung für seinen Tod trägt! Zuerst bringe ich ihn
um, und dann nehme ich auch noch seinen Platz ein«, knurrte er sarkastisch.
»Die ganze Sache ist obszön!«
»Sie haben ihn nicht umgebracht«,
beruhigte Hugh, erschüttert über das Ausmaß von Stephens Schuldgefühl. »Er hat
nicht aufgepaßt und ist Ihnen vor die Kutsche gelaufen. Es war ein Unfall. So
etwas kann passieren.«
»Sie könnten es nicht so einfach
abtun, wenn Sie dabeigewesen wären«, schoß Stephen wütend zurück. »Sie haben
ihn ja schließlich nicht unter den Pferden hervorgezogen. Er hatte sich den
Hals gebrochen, seine Augen standen offen, und er versuchte, zu flüstern und
Luft zu holen. Mein Gott, er war noch so jung! Er sah so aus, als bräuchte er
sich noch nicht einmal zu rasieren. Er versuchte mir dauernd etwas zu sagen,
aber ich verstand nicht, was er meinte. Erst am nächsten Tag kam es mir dann,
daß er mit seinem letzten Atemzug von seiner bevorstehenden Heirat geredet
hatte. Wenn Sie dagewesen wären, ihn gesehen und das gehört hätten, dann würde
es Ihnen nicht so verdammt leichtfallen, mich dafür zu entschuldigen, daß ich
ihn überfahren habe und jetzt seine Verlobte begehre.«
Hugh hatte auf das Ende von Stephens
Selbstanklage gewartet, um ihn darauf
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