Judith McNaught
ihnen
vorstellte. Stephens Gewissen regte sich, weil sie überhaupt niemanden kennenlernen
würde, aber, so beruhigte er sich, immerhin schien sie die Aufgabe erheitert
und unterhalten zu haben, und deshalb fragte er sie, was sie denn bis jetzt
schon gelernt habe.
Ihre Antworten und ihr lebhafter
Gesichtsausdruck zerstreuten und belustigten ihn, und diese Stimmung hielt das
ganze zehngängige Mahl über an. Bei den außergewöhnlichsten Frivolitäten und
Exzessen, über die sie gelesen hatte, rümpfte sie so mißbilligend ihre
Stupsnase oder verdrehte die Augen in so amüsiertem Unglauben, daß er unwillkürlich
lachen mußte. Und während er noch versuchte, seine Erheiterung zu verbergen,
wurde sie plötzlich nachdenklich und stellte ihm leise eine Frage, die ihn
völlig aus der Fassung brachte. Ihr schadhaftes Gedächtnis wies anscheinend
weiße Flecken auf, wenn es darum ging, zu verstehen, wie und warum Menschen
seiner sozialen Schicht – und auch ihrer in Amerika – Dinge auf eine besondere
Art taten, und so stellte sie Fragen, die ihm Sitten, die er für
selbstverständlich gehalten hatte, in einem neuen Licht erscheinen ließen.
»Die Gazette schreibt«, informierte sie ihn
lachend, während die Lakaien ihnen eine köstliche Ente servierten, »daß das
Hofkleid der Gräfin von Evandale mit dreitausend Perlen bestickt gewesen sei.
Halten Sie das für eine korrekte Meldung?«
»Ich glaube fest an die
journalistische Integrität der Gesellschaftsreporter der Gazette«, witzelte Stephen.
»Wenn das stimmt«, sagte sie mit
ansteckendem Lächeln, »dann kann es sich entweder nur um sehr kleine Perlen gehandelt
haben, oder aber die Gräfin ist sehr dick.«
»Warum das denn?«
»Wenn die Perlen sehr dick wären und
sie nicht, dann hätte sie sicher eine Seilwinde gebraucht, um nach ihrem
Hofknicks vor dem König wieder hochzukommen.«
Stephen grinste immer noch über das
Bild der würdigen und ziemlich rundlichen Gräfin, wie sie hochgehievt und vom
Thron wegbefördert wurde, als Sherry plötzlich vom Frivolen zu ernsteren Themen
wechselte. Sie stützte ihr Kinn in beide Hände, sah ihn über den Tisch hinweg
an und fragte: »Wenn sich im April jedermann von Bedeutung für die Saison nach
London begibt und bis Juni hierbleibt, was machen die Leute dann mit ihren
Kindern?«
»Sie bleiben mit ihren
Kindermädchen, Gouvernanten und Lehrern auf dem Land.«
»Und das gleiche gilt im Herbst
während der kleinen Saison?«
Als Stephen nickte, legte sie den
Kopf schief und sagte ernst: »Wie einsam englische Kinder während dieser langen
Monate sein müssen.«
»Sie sind ja nicht allein«, führte
Stephen äußerst geduldig aus.
»Einsamkeit hat nichts mit
Alleinsein zu tun. Nicht für Kinder und Jugendliche.«
Stephen bemühte sich so sehr, dieses
schwierige Thema zu vermeiden, das, wie er fürchtete, geradewegs zu einer
Diskussion über ihre eigenen Kinder führen würde, daß er gar nicht merkte, wie
kühl sein Tonfall geworden war und daß seine Bemerkungen sie in ihrem
verletzlichen Zustand wie Pfeilspitzen treffen mußten. »Sprechen Sie denn aus
Erfahrung?«
»Ich ... ich weiß nicht«, antwortete
sie.
»Leider werden Sie es morgen abend
sein.«
»Allein?«
Als er nickte, blickte sie rasch auf
die delikate, mit Pastete gefüllte Teigmuschel, die sich auf ihrem Teller
befand, dann holte sie tief Luft, als müsse sie ihren ganzen Mut zusammennehmen,
und sah ihn direkt an. »Gehen Sie aus, weil ich das jetzt eben gesagt habe?«
Er kam sich bei dieser Frage vor wie
ein Ungeheuer, und so antwortete er nachdrücklich: »Ich habe diese Verabredung
schon vor längerer Zeit getroffen und konnte sie nicht mehr absagen.«
Und als wäre sein Bedürfnis, sich in
ihren Augen freizusprechen, nicht schon absurd genug, fügte er auch noch
hinzu: »Es erleichtert Sie vielleicht, zu erfahren, daß meine Eltern meinen
Bruder und mich während der Londoner Saison mindestens einmal alle vierzehn
Tage nach London haben kommen lassen. Mein Bruder und seine Frau und einige
ihrer Freunde bringen ihre Kinder und sogar deren Gouvernanten während der
Saison mit.«
»Oh, das ist reizend«, rief sie aus
und lächelte, als ginge die Sonne auf. »Es erleichtert mich wirklich, daß es in
der Gesellschaft so liebevolle Eltern gibt.«
»Die meisten Mitglieder der
Gesellschaft«, informierte er sie trocken, »finden soviel elterliche Zuneigung
eher erheiternd.«
»Ich finde nicht, daß man sein
eigenes Handeln von der Meinung
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