Judith McNaught
Ich könnte Ihren
Kutscher fragen ...«
»Auf gar keinen Fall«, warnte
Stephen sie in scharfem Ton. »Ich besitze kein Pferd, daß für Sie oder
irgendeine andere Frau geeignet wäre, ganz gleich, wie gut Sie reiten können. Meine
Tiere taugen nicht für einen beschaulichen Ausritt im Park.«
»Ich glaube, das habe ich mir
gestern auch nicht vorge stellt. Ich hatte eher das Gefühl, ich wollte
galoppieren und den Wind auf meinem Gesicht spüren.«
»Kein Galopp«, verfügte er. Und sollte
sie eine noch so geübte Reiterin sein – sie war schließlich kein grobknochiges
Bauernmädchen, sondern zart und zerbrechlich. Zudem hatte sie gar nicht die
Kraft, mit einem galoppierenden Pferd fertigzuwerden. Als sie ihn bestürzt und
aufsässig ansah, erklärte er brummig: »Ich möchte nicht, daß man Sie ein zweites
Mal bewußtlos nach Hause trägt.«
Er unterdrückte ein Schaudern bei
dem Gedanken an ihren leblosen Körper in seinen Armen, und das erinnerte ihn an
einen anderen Unfall – noch ein lebloser Körper, der zu einem jungen Baron
gehörte, der das Leben noch vor sich hatte, und auf den ein wunderschönes
Mädchen wartete, um ihn zu heiraten. Die Erinnerung verbannte endgültig seinen
Wunsch, das eigentliche Thema ihres Besuches noch weiter hinauszuzögern.
Er lehnte sich also in seinem Stuhl
zurück, schenkte ihr ein, wie er hoffte, warmes, freudiges Lächeln und begann,
seinen Plan für ihre Zukunft durchzuführen. »Ich freue mich, Ihnen sagen zu
dürfen, daß meine Schwägerin die beste Modistin in ganz London dazu überreden
konnte, ihr Geschäft in der auftragsstärksten Zeit zu verlassen und mit ihren
Näherinnen im Gefolge hierherzukommen, um Ihnen eine Garderobe für die
Festlichkeiten der Saison zu entwerfen.« Statt begeistert zu sein, runzelte sie
bei dieser Nachricht leicht die Stirn. »Das mißfällt Ihnen doch wohl nicht?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich
brauche keine weiteren Kleider mehr. Ich besitze noch zwei, die ich noch gar
nicht getragen habe.«
Sie nannte insgesamt fünf
gewöhnliche Tageskleider ihr eigen und dachte wirklich, das sei eine Garderobe.
Stephen entschied, ihr Vater müsse ein egoistischer Geizhals gewesen sein. »Sie
brauchen noch eine Menge anderer Dinge neben diesen wenigen Sachen.«
»Warum?«
»Weil man für die Londoner Saison
eine aufwendige Garderobe benötigt«, erwiderte er unbestimmt. »Ich wollte Ihnen
auch mitteilen, daß Dr. Whitticomb heute nachmittag mit einer seiner Bekannten
kommt, einer älteren Dame, die, wie ich seiner Nachricht entnommen habe,
willens und erfahren genug ist, um eine akzeptable Anstandsdame für Sie
abzugeben.«
Das erregte augenblicklich ihre
Heiterkeit. »Ich brauche keine Gesellschafterin«, lachte sie, »ich bin eine
...« Sherrys Magen drehte sich um und und sie konnte auf einmal nicht mehr
weitersprechen. Der Gedanke, der ihr gekommen war, verschwand im Nichts.
»Sie sind was?« drang Stephen in
sie. Er bemerkte ihre Erregung und sah sie aufmerksam an.
»Ich ...« sie rang um die Worte, um
eine Erklärung, aber der Gedanke entzog sich ihr weiter und ließ sich von ihrem
Verstand bereits nicht mehr fassen. »Ich – ich weiß nicht.«
Da er unbedingt den unangenehmen
Teil des Gesprächs hinter sich bringen wollte, schob Stephen das Thema
beiseite. »Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Zu gegebener Zeit fällt
Ihnen alles schon wieder ein. Da ist noch etwas anderes, über das ich mit
Ihnen sprechen möchte ...«
Als er zögerte, sah sie ihn mit
ihren großen silbrigen Augen an und lächelte ein bißchen, wie um ihm zu
versichern, sie habe sich schon wieder in der Gewalt. »Was wollten Sie gerade
sagen?«
»Ich wollte gerade sagen, daß ich
einen Entschluß gefaßt habe, der auch von meiner Familie voll getragen wird.«
Nachdem er ihr mit dieser Versicherung, daß die Familie hinter ihm stand,
einen Einspruch unmöglich gemacht hatte, stellte ihr Stephen in sorgfältig
gewählten Worten sein Ultimatum. »Ich möchte, daß Sie die Gelegenheit haben,
die Saison und die Aufmerksamkeit anderer Männer zu genießen, bevor wir unsere
Verlobung verkünden.«
Sherry fühlte sich, als habe ihr jemand
ins Gesicht geschlagen. Sie wünschte keine Aufmerksamkeit von fremden Männern,
und sie konnte sich nicht vorstellen, warum er das wollte. Mit mühsam
beherrschter Stimme fragte sie: »Darf ich fragen, warum?«
»Ja, natürlich. Eine Heirat ist ein
sehr großer Schritt, der nicht leichtfertig unternommen werden sollte
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