Judith McNaught
Morgen. Vor einem Spiegel mit Goldrahmen
blieb sie stehen, um zu überprüfen, ob ihre Haare in Ordnung waren, und um den
Rock ihres neuen zitronenfarbenen Kleides glattzustreichen. So präsentierte
sie sich Hodgkin, der an den geöffneten Türen zum Arbeitszimmer stand und die
Lakaien überwachte, die die Tische mit Bienenwachs einrieben und
Silberkandelaber polierten. »Guten Morgen, Hodgkin. Sie sehen heute besonders
gut aus. Ist das ein neuer Anzug?«
»Ja, Miss. Danke, Miss«, erwiderte
Hodgkin, der erfolglos versuchte, seine Freude darüber zu verbergen, daß es
auch ihr auffiel, wie gut er in der neuen Livree aussah, die ihm gemäß seines
Anstellungsvertrages zweimal im Jahr zustand. Er straffte seine Schultern so
weit wie möglich und vertraute ihr an: »Er ist erst gestern direkt vom
Schneider gekommen.«
»Ich habe auch ein neues Kleid«,
teilte sie ihm ebenso vertraulich mit. Stephen hatte beim Geräusch ihrer
Stimme aufgeblickt, und sah nun, wie sie mit beiden Händen leicht den Rock
raffte und vor dem Unterbutler eine langsame Pirouette drehte. »Ist es nicht
reizend?« hörte er sie fragen.
Die Szene war so ungekünstelt
bezaubernd, daß Stephen lächelte und ihr noch vor dem Unterbutler antwortete.
»Wirklich reizend«, erwiderte er, woraufhin Hodgkin nervös zusammenzuckte und
Sherry ihren Rock fallen ließ. Sie lächelte ihn jedoch mit ihrem gewinnenden
Lächeln an, als sie mit leicht schwingenden Hüften zu seinem Schreibtisch kam.
Den meisten Frauen, die Stephen kannte, war genau beigebracht worden, wie sie
gehen und sich bewegen mußten, so daß sie sich mit der eingedrillten Präzision
einer Turnmannschaft bewegten. Sherry hingegen hatte eine mühelose Anmut an
sich, so daß ihr Gang ganz ungekünstelt wirkte, und auf natürliche Weise
weiblich.
»Guten Morgen«, sagte sie. Sie wies
auf den Stapel von Dokumenten und Korrespondenz auf seinem Schreibtisch und
fügte hinzu: »Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ich dachte, Sie wollten mich
sofort sehen ...«
»Sie stören mich nicht«, beruhigte
Stephen sie. »Ich habe sogar meinen Sekretär weggeschickt, damit wir uns unter
vier Augen miteinander unterhalten können. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Er
nickte Hodgkin einen stummen Befehl zu, damit dieser die Türen schloß. Während
die großen Eichentüren leise zuschwangen, rückte Sherry ihren Rock zurecht.
Sie achtete mit besonderer Sorgfalt auf ihr neues Kleid, stellte Stephen fest,
glättete hier und da eine Falte mit der Hand und vergewisserte sich, daß sie
nicht mit der Schuhspitze auf dem Saum stand. Als alles zu ihrer Zufriedenheit
arrangiert war, blickte sie ihn mit ihren hübschen Augen erwartungsvoll und
fragend an. Und vertrauensvoll.
Sie vertraute ihm bedingungslos,
dachte Stephen, und er wollte ihr Vertrauen mißbrauchen, indem er sie manipulierte.
Als das Schweigen zwischen ihnen sich bis an die Grenze der Peinlichkeit
ausdehnte, stellte er fest, daß er diesen Augenblick mehr gefürchtet hatte als
erwartet – so hatte er das Thema auch gestern abend nicht angeschnitten, damit
sie ihr gemeinsames Essen genießen konnten. Jetzt jedoch konnte er es nicht
weiter aufschieben, obwohl er gerade das im Augenblick versuchte.
Da ihm so rasch kein anderes
Gesprächsthema einfiel, überbrückte er das Schweigen mit der ersten Bemerkung,
die ihm in den Sinn kam. »Hatten Sie einen angenehmen Morgen?
»Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht
sagen«, erwiderte sie ernsthaft. Ihre Augen jedoch lachten ihn an. »Wir haben
erst vor einer Stunde gefrühstückt.«
»War das erst vor einer Stunde? Es
kommt mir länger vor«, entgegnete Stephen linkisch. Er kam sich so ungeschickt
und albern vor wie ein unerfahrener Jugendlicher, der zum ersten Mal mit einer
Frau allein ist. »Nun ja, was haben Sie denn seitdem gemacht?« hakte er nach.
»Ich war in der Bibliothek und habe
etwas zu lesen gesucht, als sie nach mir schickten.«
»Sie wollen doch damit nicht sagen,
daß Sie alle diese Magazine, die ich für Sie habe kommen lassen, schon
ausgelesen haben! Der Stapel ging mir bis zu Taille.«
Sie biß sich auf die Lippen und sah
ihn lachend an. »Haben Sie sich diese Magazine schon einmal angesehen?«
»Nein, warum?«
»Ich glaube nicht, daß Sie sie sehr
erbaulich finden würden.«
Stephen hatte keine Ahnung von
Frauen-Magazinen, außer daß alle Frauen sie getreulich lasen, aber da er das Gespräch
aufrechterhalten wollte, fragte er höflich nach den Titeln der Magazine, die
sie erhalten
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