Judith McNaught
...«
Stephen hielt inne und verfluchte sich insgeheim, weil er idiotisch über eine
Zeremonie philosophierte. Also schaltete er auf eine seiner Meinung nach
überzeugendere Erklärung um, die sie nicht durchschauen konnte. »Da wir uns
nicht besonders gut kannten, bevor Sie nach England kamen, denke ich, Sie
sollten die Gelegenheit haben, sich andere Bewerber in London anzusehen, bevor
Sie sich für mich als Ehemann entscheiden. Aus diesem Grund möchte ich auch,
daß unsere Verlobung eine Zeitlang unser Geheimnis bleibt.«
Sherry spürte, wie etwas in ihr
zerbrach. Er wollte, daß sie jemand anderen fand. Er versuchte, sie
loszuwerden, das konnte sie spüren, und warum auch nicht? Ohne Gedächtnisstütze
konnte sie sich noch nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern, und sie war
ganz anders als die fröhlichen, wunderschönen Frauen, die sie gestern im Park
gesehen hatte. Sie durfte sich nicht einmal im entferntesten mit seiner
Schwägerin oder seiner Mutter vergleichen, mit ihrem selbstbewußten Auftreten
und ihrer königlichen Art. Offensichtlich wollten sie sie auch nicht in der
Familie haben, und das bedeutete, daß ihre Herzlichkeit ihr gegenüber nur vorgetäuscht
gewesen war.
Tränen der Demütigung brannten in
ihren Augen, und sie sprang hastig auf, um die Fassung wiederzugewinnen. Verzweifelt
versuchte sie, ihren angeschlagenen Stolz zu wahren. Sie konnte ihm nicht ins
Gesicht sehen, sie konnte aber auch nicht aus dem Zimmer laufen, ohne ihre Gefühle
preiszugeben, also drehte sie ihm den Rücken zu und trat an die Fensterfront,
die zur London Street blickte. »Ich halte das für eine ausgezeichnete Idee,
Mylord«, sagte sie mit unsicherer Stimme und starrte blind aus dem Fenster. Sie
hörte, wie er aufstand und zu ihr kam. Sie schluckte und holte tief Luft, bevor
sie fortfuhr: »Genauso wie Sie hatte auch ich ... einige Vorbehalte
hinsichtlich dessen, ob wir zueinander passen ... seitdem ich hier bin.«
Stephen dachte, er hörte ihre Stimme
brechen, und sein Gewissen regte sich. »Sherry«, begann er und legte ihr die
Hände auf die Schultern.
»Nehmen Sie bitte Ihre Hände ...«,
sie hielt inne, um erneut zitternd Luft zu holen, »von mir.«
»Drehen Sie sich um und hören Sie
mir zu.«
Sherry spürte, daß sie die Fassung
verlor, und obwohl sie ihre Augen fest geschlossen hielt, rannen ihr heiße
Tränen über die Wangen.
Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde
er sehen, daß sie weinte, und sie würde eher sterben, als diese Demütigung zu
ertragen. Da ihr kein anderer Ausweg blieb, senkte sie den Kopf und gab vor,
gedankenverloren mit dem Finger die Rahmen der Bleiglasscheiben
entlangzufahren.
»Ich möchte doch nur Ihr Bestes«,
sagte Stephen und unterdrückte das Verlangen, sie in die Arme zu schließen und
um Verzeihung zu bitten.
»Natürlich. Es war ja auch
unwahrscheinlich, daß Ihre Familie mich als passende Partie für Sie ansehen
würde«, gelang es ihr nach einer Weile in einer relativ normalen Stimme zu
sagen. »Und ich weiß überhaupt nicht, wie mein Vater auf die Idee kommen
konnte, Sie wären der richtige Mann für mich.«
Sie klang so gefaßt, daß Stephen sie
beinahe hätte gehen lassen. Da sah er auf einmal, daß Tränen auf den Ärmel
ihres Kleides tropften, und es war mit seiner Zurückhaltung vorbei.
Er packte sie an den Schultern,
drehte sie zu sich herum und zog sie in die Arme. »Bitte weine nicht«,
flüsterte er in ihr duftendes Haar. »Bitte nicht. Ich möchte doch nur dein
Bestes.«
»Dann lassen Sie mich los«,
entgegnete sie leidenschaftlich, aber sie weinte so heftig, daß ihre Schultern
bebten.
»Ich kann nicht«, erwiderte er.
Seine Hände hielten ihren Kopf, und er drückte ihre heiße Wange an sein Hemd,
durch das er die Nässe spürte. »Es tut mir leid«, flüsterte er und küßte sie
auf die Schläfe. »Es tut mir leid.« Sie fühlte sich so weich an. Sie war zu
stolz, um sich zu wehren, und zu niedergeschmettert, um mit dem Weinen
aufzuhören, deshalb stand sie steif in seiner Umarmung, während sich ihr Körper
in stummen Schluchzern schüttelte. »Bitte«, wis perte er rauh. »Ich möchte dir
nicht weh tun.« In einem hilflosen Versuch, sie zu beruhigen, streichelte er
ihren Nacken und ihren Rücken. »Laß es nicht zu, daß ich dir weh tue.« Ohne zu
überlegen, was er tat, hob er ihr Kinn und drückte einen zarten Kuß auf ihre
tränenfeuchte Wange. Außer in der Nacht, als sie das Bewußtsein wiedererlangt
hatte, hatte sie keine einzige Träne
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