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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Moor
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zu können, müßte man Fachmann sein und nicht lediglich wohlmeinend, wie ich.
    Ein Problem, lieber Freund, mit dem ich zur Zeit viel zu tun habe, und mit dem ich relativ schlecht fertig werde, ist das Schuldgefühl. Das ist im Moment wohl stärker, als es je war. Wenn ich sachlich überlege, ist mir durchaus klar, daß es zu solchen grauenhaften Dingen fast mit Sicherheit nicht gekommen wäre, wenn manches anders gewesen wäre in meinem Leben, Dinge anders gewesen wären, auf die ich keinen Einfluß hatte. Jeden, der sachlich denken kann, müßte das zur Einsicht bringen, daß ich nicht das Ungeheuer aus bösem Willen war, zu dem mancher mich machen wollte. Aber wer denkt schon stets sachlich? Auch ich selber nicht, und so geht es mir selber oft so, daß ich die Worte des «Volkes» eingängig finde und versucht bin, selber zu glauben, daß ich nichts als ein Untier sei. Und solche Momente bringen dann natürlich die Frage mit, ob man das Recht habe, noch weiterzumachen, weiterzuleben. Sicher, man darf letzten Endes wohl nicht ständig mit solchen Schuldgefühlen leben. Man darf sie nicht vergessen, aber man muß versuchen, sie zu verarbeiten. Ich verstehe das, gefühlsmäßig, aber trotzdem bin ich ziemlich hilflos, solange ich nicht weiß, wie ich das in der Praxis, im Einzelnen, anzufangen habe.
    Viele liebe Grüße bis zu Deinem Antwortbrief von Deinem alten GEHIRNAMPUTIERTEN Freund
    Jürgen
    ***
    [Mein persönliches Verhältnis zu den verschiedenen Psychiatern, die im Laufe der Jahre für Jürgen verantwortlich waren, war meist gut bis ausgezeichnet, aber in Eickelborn hatte ich zum erstenmal das Gefühl, daß Dr.   Teuber sich mit mir irgendwie nicht wohl fühlte und mir nie wirklich vertraute. Teuber war z.   B. der erste seit langem, der es uns nicht erlaubte, unter vier Augen zusprechen. Andererseits wurde ich von der Leitung der Eickelborner Anstalt genauso wie ein Familienangehöriger behandelt und durfte Jürgen besuchen, sooft mich meine Arbeit in diese abgelegene Gegend brachte. Ich hatte das Glück, Freunde in Lippstadt zu haben, Toni und Barbara Vonnegut, deren Gastfreundschaft ich bei solchen Gelegenheiten genießen durfte. Jedesmal, wenn ich mit dem Wagen von Berlin in die Bundesrepublik fuhr, versuchte ich, früh genug in Lippstadt anzukommen, um den Nachmittag mit Jürgen zu verbringen und ihn auch am nächsten Morgen zu treffen, ehe ich weiterreiste – das waren in mehr als einer Hinsicht die anstrengendsten Besuche, die man sich vorstellen kann. Im folgenden Brief – nicht zum erstenmal – schrieb Jürgen Einzelheiten, die mehr für die Augen des zensierenden Psychiaters als für meine gedacht waren. Auf den Briefumschlag hatte Jürgen geschrieben: «Lieber Herr Dr.   Teuber! Ich habe nichts gegen eine Unterredung mit Paul Moor, der mein bester Freund ist.» Verständlicherweise habe ich Jürgen nichts davon gesagt, aber von einem zuverlässigen Psychiater hatte ich gehört, der Direktor von Eickelborn und seine Ärzte hätten den Ruf, wie er sagte, «kastrierfreudig» zu sein.]
     
     
    4771   Eickelborn 2/​2/​73
     
    Du schreibst, alter Freund Paul, daß Bossi (laut FAZ) gesagt habe, ich sei zur Kastration bereit. Was Herr Bossi da sagt, ist nicht richtig. Ich bin nicht zu einer Operation bereit, ob heute oder in Zukunft. [Rot unterstrichen:]
Meiner Ansicht nach könnte mir am wirksamsten geholfen werden durch ausgesprochene Psychotherapie mit eventuell noch einem Psychologen.
Ich bin auch nicht bereit, die neun Monate Behandlung durch Frau Dr.   Suhr unter den Tisch fallen zu lassen, samt der positiven Prognose. Ich weiß, daß ich heute nicht derjenige mehr bin, der ich 1966 war. Bereits heute wäre es mir quasi unmöglich, auch physisch, eine Gewalttat zu begehen. Eigentlich geht es im Moment um meine Charakterstärkung. Der Druck der Vergangenheit hat mich sehrdepressiv gemacht; außerdem muß mein Wille noch gestärkt werden. So etwas geht doch gar nicht ohne die Hilfe eines Arztes.
    Daß Du, alter Kumpel, in einer «schlagenden» Verbindung warst, wußte ich allerdings noch nicht. Man sieht ja, wie tapfer Du Dich geschlagen hast, ich habe noch keinen einzigen Kratzer entdecken können.
    So, lieber alter Freund, muß ich leider für heute Schluß machen. Sei gegrüßt von Deinem alten FREUND, besten Freund
    Jürgen
    ***
    [Jürgen schrieb mir wenig und selten von der Arzthelferin Gisela, erwähnte sie aber manchmal, ganz beiläufig, wenn ich ihn besuchte. Anfang 1973

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