Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
überraschte er mich mit einem Brief von Pfarrer H. in Essen, der plötzlich zeigte, was für eine Rolle in seinem Leben Gisela im Laufe der Zeit schon übernommen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er Gisela in seinen Briefen an mich überhaupt nur dreimal erwähnt, zum erstenmal am 5. Oktober 1971 und seit April 1972 gar nicht mehr.]
… Würdest Du mir eine kurze Skizze machen, ob der Herr Pfarrer mit seinen knallharten Formulierungen und Schlüssen recht hat? Ich befürchte, in vielen hat er recht. Das heißt nicht, daß ich je mein Lebensziel (ich enthielt es Dir vor – zu meinem eigenen Bedauern. Kannst Du mir verzeihen? Vielleicht wollte ich Dein Urteil nicht hören?) jemals aufgeben könnte. Meine Bitte ist nur, versuche mir die ganze Wahrheit zu sagen. Bin ich ein Irrer, daß ich mir solches Lebensziel setzte? Ist es tatsächlich unverantwortlich? Ja? Worauf gilt es dann zu verzichten? Aufs Lebensziel? 1000 Grüße Dein bester Freund
Jürgen
[Der beigelegte Brief des Pfarrers:]
43 Essen I
23. Februar 1973
Dr. K. J. H.
Lieber Jürgen!
Ich will die Zeit nutzen. Ich bin froh, daß wir im Gespräch sind. Auch meinetwegen. Hier ist wenigstens eine Stelle, an der ich mich stelle: Hier bin ich. Wieviel Präsenz, wo wir hätten zur Stelle sein sollen, haben wir schon versäumt. Auch ich werde beschenkt, indem ich auf so viel Not hinhorche.
Aber ich werde immer nur realistisch denken müssen. Sie müssen mitdenken. Alles andere hilft nicht.
Ich denke, ich bleibe dabei, der Reihe nach Ihrem Brief nachzugehen …
Die Kirche verteufeln einzelner Menschen willen? Das wäre, wie wenn man die Natur verteufeln wollte, weil ihr Einiges nicht gerät. Und nun heute das Schwerste. Verliebt und verlobt. Wie sollte Ihnen dieses nicht geschehen können. Aber ob es eine realistische Sache ist, lassen Sie mich doch fragen dürfen. Noch einmal –, ist Gisela ganz sicher vorwiegend ein mütterlicher Mensch. Sie ist betroffen von Ihrem Schicksal und sie möchte helfen. Sie ist sicher liebesfähig. Sie brauchen nichts mehr als Liebe. Wo sie Ihnen erst erzeigt wird, werden Sie danach greifen. Es gibt aber – Sie wissen es – im Bereich der Liebe viel Verwirrung. Auch Gisela brauchte einen Psychotherapeuten, um sich selber zu verstehen …
Wie Ihre Heilungsaussichten auch immer sind, Sie wären ja sicher auf ein anderes Land und einen anderen Namen angewiesen. Wie das auch immer verwirklicht werden könnte, es wäre viel Verschwiegenheit und Vertrauen notwendig. Die tapfere Verschwiegenheit müßte zuerst bei Ihnen anfangen …
Es ist nicht absehbar, wie Ihr Leben verlaufen wird. Aber es wird auf seiner Vorgeschichte so verlaufen können, daß mit Ihrem Leben ein großes Beispiel gegeben ist, für die Bewältigung eines tragisch gescheiterten Lebens. Sie haben die Möglichkeit insich –, und ich wollte Ihnen darum ringen helfen, soviel auch mir Kräfte dazu gegeben werden. Ihr Leben kann noch
ein großes Leben
werden, ein beispielhaftes, ein helfendes, das in Tapferkeit, Erleiden und Vertrauen, selbst vor den Augen der Menschen Respekt abfordert. Dieses Leben wünsche ich Ihnen, wie auch immer die äußeren Möglichkeiten ablaufen. Sie müssen innen beginnen.
Lieber Jürgen, ich bin für Sie, lassen Sie sich nicht unterkriegen, leben Sie ein Trotzdem, mit GOTTES HILFE …
***
[Jürgens Psychologe in Eickelborn hatte einen übervollen Arbeitsplan: Er hatte, wie Jürgen ihn zitierte, «pro Patient alle drei Wochen eine Stunde Zeit». Bei einer Psychoanalyse verbringt der Patient vier Stunden pro Woche in Einzeltherapie. Mehr als je zuvor zeigte mir dieser Brief, wie unrealistisch Jürgen seine allgemeine menschliche Lage betrachtete.]
4771 EICKELBORN, 1/3/73
… Denk einmal an den letzten Besuch. (Den Durchfall können wir weglassen). Da richtete ich die etwas bange Frage an Dich, ob unser Vertrauen zueinander stets gleich bleiben würde. Du sagtest ja, es galt damals, es gilt auch für die Zukunft. Ich hatte meinen guten Grund zu dieser Frage. Ich war gerade in der Bedenkzeit (meine Freundin), die Gisela erbeten hatte, vier Wochen, und konnte noch nichts Sicheres sagen. Vielleicht war es der eigentliche Grund, daß ich Dir nichts davon sagte.
Du sagtest einmal, Du wärest glücklich, mich auch heterosexuell glücklich zu sehen. Davon aber, meine ich, bin ich noch weit entfernt, was für beide gilt, für Gisela und mich. Es ließ sich
Weitere Kostenlose Bücher