Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Assoziationen und Bekenntnisse, die nicht bekannt sind. Zum Schluß hat er sich bei mir bedankt und mir gesagt, daß er kaum noch Mordphantasien, sondern nur noch homosexuelle Phantasien hat, daß er sich keinen Kindermord, nur noch Selbstmord vorstellen kann. Ich habe die Erlaubnis von Jürgen, Dir dieses alles mitzuteilen. Ich muß Dich nur bitten, diese Einzelheiten nicht für Veröffentlichungen zu benutzen.
Ich schreibe dies alles, um Dir klar zu machen, wie schwer mir der Gedanke fällt, daß die Analyse nicht erst richtig anfangen sollte bei dieser Vorarbeit. Wenn er heute anders über die Psychoanalyse denkt, ist das vielleicht aus der fehlenden Kontinuität der Arbeit und aus einer verständlichen ambivalenten Haltung der Analyse gegenüber zu verstehen, die vielleicht jeder Patient hat. Überflüssig, zu sagen, daß die Analyse nicht nur Spaß macht!
Ich freue mich sehr über Deine Bemühungen und Dein Engagement.
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[Als Jürgen den folgenden Brief schrieb, stand er kurz vor seinem letzten Umzug.]
5 Köln 30, den 31. 10. 1972
… Nichts mit Weihnachten noch hier sein. Die Entscheidung für Eickelborn ist GEFALLEN. Meine Tage hier sind nun gezählt. (A propos Eickelborn. Du wirst jetzt doch hoffentlich nicht Trauer tragen …?) Ein riesiger Fortschritt, und kaum jemand kann ermessen, wie sehr ich mich freue über den Abschied von der Justiz-Zeit.
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[Am 6. November war Jürgen sechsundzwanzig geworden.]
5 KÖLN, 13. 11. 72
Bester Freund Paule.
Heute morgen ließ unser Doktor mich holen. Er behauptete, Post von mir (an jemanden) fehle. Ich kam nicht darauf, was er meinte. Post an DICH fehlte, sagte er, nämlich mein Dank dafür, daß Du wieder beim Besuch einen Umweg über Köln gemacht hast für mich, und für die Geschenke zum Geburtstag (das Feuerzeug aus Spanien und den Zauberkuli, mit dem Ich Dir diesen Brief schreibe!). Es sah so aus, als glaubte er, daß ich nicht im Sinn hatte, Dir zu schreiben, Dir zu danken. Ich antwortete, sinngemäß, daß er das doch wohl nicht im Ernst glauben könne. Ich bedanke mich immer, bei jedermann, die Frage ist nur wann. Gerade teilte mir Dr. Goette mit, daß der schriftliche Marschbefehl hier
angekommen ist
[rot unterstrichen], ausgestellt am 6. NOVEMBER (!). Ein erstklassiges Geburtstagsgeschenk! Eine große Freude, aber nicht nur eine Freude. Sonst dürfte ich gar kein Herz haben. Weil ich nicht nur überzeugt bin, daß es mir gut ging hier, sondern [daß ich hier] einen echten, ehrlichen Freund [gemeint ist Dr. Goette] gefunden habe. Es gilt nicht den Ort, es gilt ihn zu verlassen. Ob diese Verbindung über lange Jahre anhält, liegt nicht an mir. Sondern daran, ob er mir antwortet, wenn ich schreibe. Es liegt auch daran, ob er mir erlaubt, ihn später zu besuchen, habe ich mehr Freiheit. Das ist ein großer Wunsch von mir.
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5 KÖLN, 15. 11. 72
Adresse ab heute:
Landesheilanstalt Rottland in
4771 Eickelborn
Hauptstraße
[Diese Postkarte meldete Jürgens letzte Anschrift. Wie die meisten Länder der Welt baut die Bundesrepublik ihre Heilanstalten, wo Boden billig ist; die Anstalt Rottland liegt in dem DorfEickelborn (heute Lippstadt-Eickelborn) mit nur 2400 Einwohnern (einschließlich der Patienten der Landesheilanstalt) zwischen Soest und Lippstadt – isoliert in der «tiefsten Provinz», die natürlich qualifiziertes Personal wenig anzieht. In dieser Heilanstalt hat Jürgen Bartsch noch drei Jahre, sechs Monate und dreizehn Tage gelebt.]
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19 Briefe X
[Mit «Film-Fest» meint er hier die Herstellungsprozedur des Phallogramms.]
4771 Eickelborn, 21. 11. 72
… Du möchtest wissen, alter Freund, wie es uns hier geht. Wir sind im wohl festesten Haus, «Männer 11a». Die Verhältnisse der Sicherung sind etwa wie in Köln, eher etwas strenger noch. Mir persönlich sind am meisten aufgefallen die Vorkehrungen gegen Suizid. Plastikbestecke, keine Wasserhähne zum Drehen, keine Stoffhandtücher, kein eigenes Feuerzeug usw. Materiell dagegen geht es uns ausgezeichnet. Jede Woche darf man unbeschränkt einkaufen, jeden Tag darf man besucht werden. Das Essen gefällt mir sehr gut, es ist sehr abwechslungsreich. Fernsehen dürfen wir jeden Tag (Klasse) bis 21.15. Der beste Film bis jetzt war ein Western über die letzte Büffeljagd mit Stewart Granger, eher ein Problemfilm. Morgens sind wir (wie in Köln) im Tagesraum, nachmittags
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