Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Strafpredigt. Das war September oder Oktober 1960.
Danach mußte ich in die Schule bei uns in der Siedlung in Langenberg, aber es waren bloß noch ein paar Monate, bis April. In Marienhausen hätten sie mich jetzt gar nicht mehr genommen. Normalerweise wird man nach dem ersten Abhauen schon gar nicht mehr genommen. Sie müssen bedenken, daß Hunderte und Hunderte von Kindern da auf der Warteliste standen. Die Leiter von Marienhausen waren auf niemanden angewiesen.
Ich habe mal an meine Tante geschrieben (wenn ich was Persönliches zu sagen habe, was mit der Seele oder mit dem Gefühl irgendwas zu tun hat, schreibe ich nicht meinen Eltern, sondern meiner Tante), ich möchte eine Zeitmaschine haben, wo man die Zeit einstellen kann, und dann würde ich sie auf Marienhausen einstellen, genau diese Zeit, wo ich im Heim war. Auf den komischen Anschluß möchte ich gern verzichten, den brauche ich nicht. Aber die Zeit, wo ich selber im Heim war, die würde ich so einstellen, daß sie, wenn sie zu Ende ist, immer gleich von vorne bis hinten wieder gehen würde. Und selbstverständlich wäre bei so einer Zeitmaschine, daß ich eben, wenn ich alles zum zehnten oder zwanzigsten Mal erlebte, das nicht wissen würde. Es müßte jedes Mal von vorne, auch für mich selbst, immer wieder ganz neu sein. Ich möchte jede Minute, jede Sekunde dann so erleben, wie ich sie damals erlebte, und auf heute und die Zukunft, irgendwelche Zukunft, würde ich scheißen.
Die gute Seite bedeutete für mich so viel, daß ich auch vielleicht noch Schlimmeres in Kauf genommen hätte. Die Hauptsache bleibt, das Wunderbare erlebt zu haben, nun einmal nicht ausgeschlossen zu sein. Es gab eine einmalige Solidarität unter uns Schülern den sadistischen Lehrern gegenüber. Ich habe mal einarabisches Sprichwort gelesen: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Sie müßten das miterlebt haben, das ungeheuerliche Solidaritätsgefühl, das Zusammenschließen von uns. Wir hätten uns alle lieber in Stücke schlagen lassen, als einen Kameraden zu verraten. Das war geradezu unwahrscheinlich.
Heute sind für mich die Bilder von Marienhausen richtige Stimulation, nur für Minuten, für Stunden mich da hineinzuversenken, die Zeiten wieder zurückzuholen, in Gedanken, ganz still dazuliegen, die Augen zugemacht. Da bin ich einfach weg, nicht mehr hier, sondern dort. Der Mensch wird mehr vom Gefühl beherrscht als vom Verstand, und wenn ich irgendeine Lage als gefühlsmäßig gefährlich erkenne, dann bin ich noch lange nicht bereit, das abzustellen, weil das Gefühl eben stärker ist. Wo manch einer vielleicht sagen würde: «Da ist eine Gefahr», für mich wäre es doch eher schön, eher eine Verlockung. Wenn ich diese Zeitmaschine nun hätte, würde ich keinen Tag, keine Minute zögern. Auf alles, was ich heute überhaupt noch habe, oder was ich vielleicht irgendwann mal bekommen könnte, würde ich pfeifen.
Aber wenn ich so eine echte Zeitmaschine wirklich hätte, dann hätte ich mir eine ganz andere Zeit als die in Marienhausen ausgesucht. Ich hätte mir eine bessere, ertragenswertere Zeit ausgesucht, denn ertragenswert ist die Zeit in Marienhausen an sich nicht gewesen. Das ist sie wirklich nicht. Ich könnte mir vorstellen, ich hätte mir das erste Kinderheim in Rheinbach ausgesucht, denn es war sehr schön, dort zu sein. Vom körperlichen Aushalten war es da wunderbar.
Ich habe einen sogenannten ewigen Kalender für die Zeit von 1900 bis 2000, und mit Hilfe dieses Kalendars habe ich mir für die Zeit, wo ich in Marienhausen war, einen richtigen Kalendar gemacht, mit Daten und Wochentagen. Und dann habe ich im bekloppten Kopf gedacht: Wenn du das nun siehst, brauchst du nur das Datum anzugucken, dann fällt dir alles genau wieder ein, wie es an jedem einzelnen Tag war. Das war aber natürlich beschissen. Das habe ich auch von Minute zu Minute gemerkt,daß das nicht ging, aber es hat mich doch ziemlich enttäuscht. Dann habe ich mir darunter eine Liste gemacht, mit Namen von allen Jungs, mit denen ich in Marienhausen in einer Klasse war. Es waren etwa dreißig bis fünfunddreißig. Ich habe mich selber überrascht, ungefähr achtzehn habe ich zusammengekriegt. Ich habe das mal mit Rheinbach verglichen. Heute weiß ich von keinem einzigen mehr den Namen.
Kurz vor oder nach der ersten Tat habe ich Detlef eine Karte geschrieben, ich möchte ihn doch mal gerne wiedersehen. Ich hatte ein ziemliches Schuldbewußtsein. Ich habe das ungefähr so formuliert, daß
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