Jürgen Zöller Selbst - Aus dem Leben des BAP-Trommlers
Wendeltreppe hoch, oben war das Klo. Vor das Klo hatte Artur die Musikbox gestellt und ein Paar Tische, an denen nur schwer ein Platz zu ergattern war. Unten ging man rein, parallel zur Wand konnte man sitzen, und wenn an der Theke zwanzig Menschen Platz finden wollten, führte das schon zu massivem Gedränge. Jürgen bestellte Rindswurst und Cola. Die Rindswurst war eine Legende und das zweitbeste Argument, in die
Fliegerklause
zu gehen.
Na gut, vielleicht das drittbeste. Das zweitbeste waren die Leute. Zum Beispiel Charlie und Roger. Der eine war Koch, der andere Hotelkaufmann. Beide verdienten sich ein bisschen was dazu nach der Lehre als Mundschenke in König Arturs Paradies. Einer sah aus wie Nosferatu: fast zwei Meter lang, Glatze, vorstehende Augen und stechender Blick. Nichts hier war langweilig: unter den Stammgästen war ein schwuler Schneider, der für die Haute Couture der Damen des horizontalen Gewerbes sorgte. Man musste nur zuhören, dann kannte man die Geschichten: 1957 war die Edelhure Rosemarie Nitribitt ermordet worden, bis heute weiß niemand, von wem. Jürgen kannte aber immerhin den, der ihr die Edelklamotten auf den Leib geschneidert hatte.
An der hinteren Wand lief eine Abstellfläche entlang, auf die normale Menschen ihre Gläser stellten. Jürgen fand es spannender, darauf zu trommeln. Die formschöne Abstellfläche, der praktische Tisch – das ergab zusammen doch schon mal zwei soundmäßig ganz gut harmonierende Trommeln. Er schaute sich um, ob er vielleicht jemanden störte. Nee, an der Theke waren sie durchgehend am Zocken: mit drei Würfeln. Denen ging es nicht so sehr um die Musik, die spielten hier Stammkneipe. Chicago. Schnelles Spiel, meist ging es um die Wurst, die königliche Artur-Rindswurst. Pagen, Köche, Fotografen, Bahnhofsangestellte, Lehrlinge aus der Pelzbranche, Lufthansa-und SAS-Leute. Die Spielertricks kannte Jürgen, aber jetzt lernte er einen anderen: Er schnappte sich einen Barhocker und trommelte, der klang ja richtig gut, fast besser als das Tromsa. Ein paar Zocker riskierten einen Blick und feuerten ihn an. Na gut, das konnte er also öfters machen, da kannte er nix. Er fing an zu experimentieren, probierte, schlug in die Mitte, auf den Rand, richtig congamäßig groovte er sich ein, das kam gut. „Hey du hast ja Talent, da musste was draus machen!“ Ja, aber sicher. „Ich spiel’ schon in einer Band“, konnte er Artur vermelden, und spätestens da war die Linnebrüggesche Eingangsfrage „Biste überhaupt schon 16“ schon nicht mehr als ein Nachhall aus einer anderen Welt.
Am 4. April 1964 stieg „Twist and Shout“ von den Beatles in die deutschen Top Ten ein. Natürlich hatte Artur die Single schon, und ließ sie aus den großen Stereoboxen donnern, die oben hingen und das ganze Lokal beschallten. Wäre Jürgen an diesem Tag zum ersten mal in der
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eingelaufen, hätte er Artur sicher rotzfrech gefragt: „Wo haste die denn jetzt so schnell aufgetrieben?“ Aber er wusste schon eine ganze Weile, dass dieser Artur ein Wahnsinniger war, einer, der den
New Musical Express
und Rave aus England abonniert hatte, koste es was es wolle. „Da spielt die Musik. Wenn du wissen willst, was hier in ein paar Wochen den Leuten gefällt, dann musst du die Sachen lesen!“ Alle zwei Wochen kaufte er neue Singles und LPs. Er war immer für mehrere Tage verschwunden und wenn er zurück kam, raunte er verschwörerisch: „Guck mal, was ich aus England mitgebracht habe …“ Jürgen durfte inzwischen bei den heimischen Plattenkäufen dabei sein. Unterwegs mit dem Plattenpapst, das ging so: Artur fuhr in ein Parkhaus, mit quietschenden Reifen vom Parterre bis in den vierten Stock, und brüllte sich den Weg frei: „Geh’ aus dem Weg, du Knecht!“ Jürgen war zum ersten Mal in seinem Leben in einem Parkhaus, mit Artur Linnebrügge, dem wahnsinnigen Musikliebhaber und Tresenkönig. Konnte es noch besser werden? Die Cover stellte Artur in einen großen Rahmen über die Jukebox, damit jeder von weitem sehen konnte: Linnebrügge war mal wieder schneller gewesen. Aber der Mann war kein Angeber, ihm ging es um die Musik, die er mit seinen Gästen teilen wollte. Die sollten nämlich ihren Spaß haben, und für die hatte er auch den 10er Plattenwechsler in ein ausgebeintes Leslie-Cabinet reingebastelt. Was sollte man auch mit einem Leslie-Cabinet, diesem unhandlichen Schrank mit sich drehenden Lautsprechern zur Verstärkung von Hammond-Orgeln, wenn die Orgeln gerade
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