Julia Arztroman Band 62
plötzlich leichenblass wurde, wusste er, dass seine Vermutung richtig war. Er verstand nur nicht, warum sie vor ihm so ein Geheimnis um ihre Tochter machte. „Ja, ich glaube, das ist es …“
Er brach ab, als er eine aufgeregte Kinderstimme Mami rufen hörte. Im nächsten Moment kam ein kleines Mädchen um die Ecke gerannt und warf sich Gina in die Arme.
„Wo kommst du denn her?“, rief Gina überrascht.
Marco erhob sich automatisch, als er eine Frau mit zwei kleinen Jungen an der Hand auf sie zukommen sah. Es waren Zwillinge, aber er nahm sie kaum wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Ginas Tochter. Mit den blonden Haaren und dem fein gezeichneten Gesicht war sie ein Abbild von Gina. Aber die Augen …
Marco spürte, wie der Puls in seinen Schläfen hämmerte, während er das Mädchen anstarrte. Er kannte diese Augen … Augen von der gleichen Farbe wie seine eigenen, ein dunkles Goldbraun …
Und plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. An Gina. An ihre gemeinsame Zeit in Florenz. Jetzt fiel ihm alles wieder ein … Wie er sich gefühlt hatte, die Angst, als ihm bewusst wurde, dass er dabei war, sich in Gina zu verlieben. Die verschiedensten Bilder und Gefühle durchfluteten ihn – und noch etwas, eine Frage, die ihn traf wie eine Schockwelle.
Ist es möglich, dass Ginas Tochter auch meine Tochter ist?
Gina bebte innerlich, als sie Lily wieder auf die Füße stellte. Wie lange würde es dauern, bis Marco herausfand, dass Lily seine Tochter war? Er musste sie nur ansehen, um festzustellen, dass sie seine Augen hatte. Und was würde sie antworten, wenn er sie direkt danach fragte? Die Wahrheit. In einer so wichtigen Sache konnte sie ihn nicht anlügen.
„Das ist ja eine nette Überraschung, Lily, aber was macht ihr hier?“ Gina hörte die Anspannung in ihrer Stimme und warf Marco einen nervösen Blick zu, aber er bemerkte es gar nicht. Sein ganzes Interesse galt Lily … und Gina wurde klar, dass er ihrem Geheimnis auf die Spur gekommen war.
„Charlie ist von der Schaukel gefallen. Er hat sich das Knie aufgeschlagen, und zwar so schlimm, dass ich ihn in die Notaufnahme bringen musste“, erklärte Amy. „Sie mussten die Wunde nähen. Aber dafür hat er einen Sticker bekommen, weil er so tapfer war.“
„Na, den hast du dir auch verdient“, sagte Gina, als Charlie ihr stolz den Aufkleber zeigte.
Amy lachte. „Meine beiden Rabauken scheinen diese Belohnungen zu sammeln. Nachdem wir schon hier waren, wollte Lily dich natürlich besuchen.“ Amy sah von ihr zu Marco und grinste schief. „Tut mir leid. Wir wollten nicht stören.“
„Unsinn, ihr stört doch nicht“, beeilte sich Gina zu erwidern. Sie stellte Marco vor und ignorierte dabei Amys fragenden Blick.
„Trotzdem müssen wir weiter“, sagte Amy und nahm Lilys Hand. „Kommt, ihr drei, das Mittagessen wartet auf euch.“
Gina gab Lily einen Kuss und winkte ihr nach. Wie gerne wäre sie jetzt mit ihrer Tochter nach Hause gegangen, um Marco nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Denn sie wusste, dass er sie auf Lily ansprechen würde.
„Wir müssen reden“, sagte er dann auch im nächsten Moment, wurde aber vom Piepsen seines Pagers unterbrochen. Er warf einen Blick aufs Display. „Ich werde auf der Station gebraucht“, murmelte er und stand auf.
Gina nickte abwesend. Sie konnte jetzt nicht einfach mit der Wahrheit herausplatzen und sagen: Ja, Lily ist deine Tochter – ohne irgendeine Erklärung, warum sie ihm ihre Existenz verschwiegen hatte. Dazu brauchte sie Zeit.
Als Marco ohne ein weiteres Wort gegangen war, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Im Moment war sie noch einmal davongekommen, aber Marco würde nicht lockerlassen, das stand fest.
Würde er darauf bestehen, Lily kennenzulernen, sobald sie ihm die Wahrheit gestanden hatte? Oder würde er damit zufrieden sein, das Geheimnis endlich gelöst zu haben? Da sie nie über Kinder gesprochen hatten, wusste sie nicht, ob er sich überhaupt welche wünschte.
Wenn sie genauer darüber nachdachte, wusste sie nicht einmal, ob er bereits ein Kind hatte – oder mehrere, vielleicht sogar eine Familie. Ihre Affäre war so kurz und intensiv gewesen, dass sie nie miteinander über ihre Vergangenheit gesprochen hatten. Es war ihr auch nicht wichtig gewesen, zumindest hatte sie das damals geglaubt. Jetzt hingegen fragte sie sich, ob Marco sie deshalb nicht nach ihrer Vergangenheit gefragt und auch nichts von sich erzählt hatte, weil er sich nicht weiter für sie
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