Julia Arztroman Band 62
gefährliche Situationen“, fuhr sie fort. „Erst kürzlich kam ich ins Wohnzimmer, und da stand meine Tochter auf einem Stuhl und angelte nach der einzigen kostbaren Vase, die ich besitze. Ich hatte sie extra oben auf den Schrank gestellt, außerhalb ihrer Reichweite … So glaubte ich zumindest.“
Die beiden Frauen lachten, doch Marco blieb stumm. Ihm stockte der Atem. Gina hat eine Tochter? Stimmte es, oder hatte sie sich das nur ausgedacht, um die Mutter zu beruhigen?
Er starrte sie an und sah die Panik, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, als sie seinen Blick bemerkte. In diesem Augenblick wusste Marco, dass er ihr Geheimnis gelüftet hatte. Nur verstand er nicht, warum sie alles daran gesetzt hatte, ihm die Existenz ihrer Tochter zu verschweigen.
Seine Gedanken überschlugen sich. Ein Geheimnis hatte er gelöst, doch das war bestimmt noch nicht alles …
Gina hätte sich am liebsten geohrfeigt. Wie hatte sie nur so dumm sein können, etwas über ihre Tochter zu erzählen? Es war ihr einfach so herausgerutscht. Zum Glück konnte Marco im Moment nicht darauf eingehen, aber er würde nachbohren, das wusste sie.
Könnte sie ihn anlügen, wenn er sie nach Lilys Alter fragte? Vielleicht sollte sie Lily einfach ein paar Jahre älter machen. Damit wäre das Problem vermutlich gelöst, aber könnte sie mit dieser Lüge leben? Sie fühlte sich jetzt schon schuldig genug.
„Wenn Sie noch Fragen an mich haben, Mrs Daniels, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Chloe wird zwar auf die Kinderstation verlegt, doch da ich sie operiert habe, werde ich täglich nach ihr sehen.“
„Vielen Dank, Doktor. Sie waren sehr freundlich.“ Donna schnitt eine Grimasse. „Und ich bin Miss Daniels, ich bin nicht verheiratet. Chloes Vater hat mich verlassen, als ich ihm erzählte, dass ich schwanger bin. Er hat seine Tochter nie gesehen.“
„Das ist schade.“
Mehr sagte Marco dazu nicht, doch Gina fragte sich, ob er diese Bemerkung nur aus Höflichkeit gemacht hatte oder aus echtem Bedauern. Andererseits, was spielte es für eine Rolle, was er über Donnas Situation dachte? Er würde ganz anders denken, wenn es um sein eigenes Kind ginge, oder nicht?
In der Mittagspause rief Marco die Belegschaft in den Aufenthaltsraum, um sich offiziell vorzustellen und seinen medizinischen Werdegang kurz zusammenzufassen. Dabei erwähnte er, dass er die letzten Jahre in Australien und den USA gearbeitet hatte, was Gina überraschte, denn sie hätte nie geglaubt, dass er Italien verlassen würde. Und obwohl er seine Qualifikationen nicht herausstrich, bestand kein Zweifel daran, dass er eine Kapazität auf seinem Gebiet war.
Nachdem Marco den Raum verlassen hatte, wurde unter den Mitarbeitern daher auch wild darüber spekuliert, warum ein Mann seines Kalibers sich ausgerechnet in diesem wenig angesehenen Stadtteil von London niedergelassen hatte. Gina hielt sich aus der Diskussion heraus. Sie kannte den Grund, würde aber einen Teufel tun, ein Wort darüber verlauten zu lassen.
Sie hatte sich ein Sandwich von zu Hause mitgenommen und beschlossen, die Mittagspause im Freien zu verbringen. Die frische Luft würde ihr gut tun und hoffentlich wieder ein bisschen Klarheit in ihre wirren Gedanken bringen. Sie setzte sich auf eine Bank, etwas abseits von den Kollegen, und begann zu essen. Es dauerte keine fünf Minuten, da hörte sie Schritte. Marco kam direkt auf sie zu.
„Hier steckst du also. Ich habe dich schon gesucht.“
Gina zuckte beiläufig mit den Schultern. „Ich verbringe meine Pausen gern im Freien.“
„Aha. Da bin ich aber froh. Ich dachte schon, du hättest dich vor mir versteckt.“
Ohne darauf zu antworten, drehte Gina sich zur Seite und kramte umständlich einen Apfel aus ihrer Tasche. Hoffentlich versteht er den Wink, dachte sie, und lässt mich in Ruhe.
Doch genau das wollte Marco nicht. Er setzte sich neben sie auf die Bank und lehnte sich gemütlich zurück. „Wie angenehm, die Sonne auf der Haut zu spüren“, murmelte er.
„Mm.“ Gina biss in ihren Apfel, was ihr eine Antwort ersparte. Wenn sie ihn nicht zu einem Gespräch ermunterte, würde er vielleicht doch noch verschwinden.
Schweigend aß sie ihren Apfel, während sie innerlich vor Anspannung vibrierte. Ihre Angst, dass Marco anfangen könnte, Fragen zu stellen, steigerte sich ins Unerträgliche, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie drehte sich zu ihm um und funkelte ihn wütend an.
„Was willst du, Marco? Ich weiß zwar nicht, was du für
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