Julia Bestseller Band 142
blenden lassen? Oder sie, wenn sie in ihrer Naivität Eigenschaften an ihm erkannte, die er einfach nicht besaß?
Rafael war so versunken in seine düsteren Gedanken, dass er sie beinahe übersehen hätte. Mit bleichem Gesicht saß sie auf einem umgestürzten Baumstamm.
„Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, in den Dschungel zu laufen?“, stieß er unbeherrscht hervor. Der Vorsatz, sich verständnisvoller zu zeigen, war vergessen. Die Erleichterung, Grace unversehrt wiedergefunden zu haben, überwältigte Rafael.
„Rafael …“ Sichtlich erschrocken, wollte sie aufstehen, hielt jedoch abrupt inne. Denn er beobachtete etwas über ihr und tastete mit einer Hand nach dem Stock, den er im Gürtel trug.
„Beweg dich nicht!“
Er sah, wie sie die Arme kreuzte, aber nicht widersprach. Rafael trat einen Schritt vor und schob ihr die schwarz-gelbe Schlange mit dem Stock von der Schulter.
Erschrocken sah sie dem exotischen Reptil nach, das sich nun einen Baum hinaufwand. „War sie giftig?“
„Nein. Ich dachte nur, du möchtest vielleicht nicht, dass sich eine drei Meter lange Schlange in deinen Schoß kuschelt.“ Nachdem das erledigt war, gewann sein Zorn wieder die Oberhand. „Sie hätte allerdings giftig sein können, Grace!“ Er zog sie auf die Füße und schaute sie aus vor Wut blitzenden Augen an. „Das hier ist der Regenwald, nicht die Bond Street. Hier geht man nicht mal eben so spazieren.“
„Ich weiß das.“
„Was zum Teufel hast du dir dann dabei gedacht?“ Er hatte gerade eine Schlange von ihrem Hals vertrieben. Warum klammerte Grace sich eigentlich nicht ängstlich an ihn oder schrie hysterisch? Sie verhielt sich so undurchschaubar, wie er es noch nie bei einer Frau erlebt hatte.
„Ich habe die falsche Abzweigung genommen.“
„Wie konnte das passieren? So kompliziert ist der Weg nicht.“
Das Blut schoss ihr in die Wangen. „Ich … ich war in Gedanken woanders und habe rechts und links verwechselt.“
„Du hast was?“ Er schüttelte den Kopf und gab sich keine Mühe, den Ärger zurückzuhalten. „Hier draußen kann ein solcher Fehler den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Ist dir das nicht klar? Bist du so dumm?“
Er spürte, wie sie sich versteifte. Sie trat einen Schritt zurück und hob den Kopf.
Etwas schimmerte in ihren Augen. Tränen? Wut? Er war sich nicht sicher.
„Nenn mich nie wieder dumm.“ Ihre Stimme klang heiser und rau vor Schmerz. „Ich bin falsch abgebogen. Und ich weiß, dass es gefährlich ist, sich im Regenwald zu verirren, aber ich bin nicht dumm.“
Verblüfft darüber, dass ein einzelnes Wort eine heftigere Reaktion auslöste als eine riesige Schlange, ließ er die Schultern sinken.
„Warum hast du dann den falschen Weg genommen?“
Sie zögerte einen Moment. „Weil ich rechts und links immer verwechsle.“
„Wieso das denn?“, fragte er verständnislos.
„Ich bin Legasthenikerin.“
Er sah sie entgeistert an. Legasthenikerin? Rafael brauchte einen Moment, um sein Gedächtnis nach diesem Begriff zu durchforsten. „Du meinst, du kannst nicht lesen?“
„Nein, tatsächlich kann ich sehr gut lesen. Ich habe Probleme mit Richtungen, und mit Zahlen komme ich überhaupt nicht klar.“
Erstaunt über ihr Geständnis, versuchte er, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu überschauen. „Du kannst keine Zahlen lesen und leitest trotzdem deine eigene Firma?“
„Viele Legastheniker sind äußerst erfolgreiche Geschäftsleute. Mein Vater ist für die Buchhaltung zuständig. Ich kann mich um alles andere kümmern, solange es nichts mit Zahlen zu tun hat. Zahlen verwirren mich.“
Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Sie war nicht naiv, auch nicht dumm, sie konnte nur keine Zahlen lesen.
Seine Miene verfinsterte sich, und er griff nach Grace’ Handgelenk. „Komm mit.“
„Wohin gehen wir?“
„Zurück zum Haus. Dort werde ich dir endlich die richtigen Fragen stellen.“
„Meine Zahlenschwäche ist nicht wichtig. Und ich will nicht, dass du mich anders behandelst, weil …“
„Grace …“ Er zog sie an sich und sah sie wütend an. „Tu mir einen Gefallen und lass mich entscheiden, was wichtig ist. Dieses Mal will ich alles wissen. Und ich meine wirklich alles. Wenn es etwas gibt, von dem du denkst, ich will oder brauche es nicht zu wissen, dann interessiert mich vor allem das.“
Wieder stand Grace in seinem Büro und lauschte dem endlosen Klingeln der Telefone. Hat denselben Effekt wie ein störendes Insekt,
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