JULIA COLLECTION Band 17
behauptet, ein besonders genauer, geschweige denn einfühlsamer Kunstbetrachter zu sein.
Er bückte sich und schob die Blätter zusammen. Sein Blick fiel auf Babys, auf einen Jungen mit ausdrucksvollen Augen, auf exotische Blüten und auf eine Zeichnung von ihm selbst, bei der er sich fragte, ob er wirklich immer so grimmig wirkte.
Brad schob die Skizzen zurück in die Mappe und legte sie auf den Tisch. Mit dem Daumen strich er über das dicke Leder, und er wusste, dass es die Mappe war, die sie schon vor acht, zehn, ja zwölf Jahren gehabt hatte. Jack hatte sie ihr zum Abschluss der Highschool geschenkt. Eine Spezialanfertigung, in die die übergroßen Spiralblöcke passten, die sie bereits damals bevorzugte. Ihr Name hatte auf dem Deckel gestanden, aber jetzt waren die eingeprägten Goldbuchstaben längst verblasst.
Wie oft hatte sie sich früher mit ihrem Zeichenblock zurückgezogen, wenn sie traurig oder angespannt oder einfach nur verärgert war?
Offenbar tat sie das noch heute. Sie sprach ihre Gefühle, ihre Geheimnisse nicht aus, sondern brachte sie zu Papier.
Sie hatte das College mit einem Abschluss in Kunst verlassen. Aber zwei Jahre später, als sie noch mit Hamilton verheiratet war, war sie dorthin zurückgekehrt, um Psychologie zu studieren.
Brad schob die Mappe in die Mitte des Tischs, um sie nicht wieder versehentlich herunterzustoßen, ging zur Balkontür und schaute hinaus auf die von einem silbrigen Mond beschienene Straße.
Nach einer Weile rieb er sich mit beiden Händen übers Gesicht. Warum tat er alles, um nicht zu Bett gehen zu müssen? Nur auf dem Kopf hatte er noch nicht gestanden. In den anderen Nächten war es ihm leichter gefallen, denn er hatte sie aus ihren Albträumen holen müssen. Aber jetzt schlief sie so fest, wie er selbst schon lange nicht mehr geschlafen hatte.
Langsam knöpfte er sein Hemd auf, zog es aus, warf es über den Stuhl und tastete nach der Hose.
Und überlegte es sich anders.
Denn Kate begnügte sich zwar mit der Hälfte der Matratze, aber sie lag genau in der Mitte. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante. Und er hasste sich dafür, genau wie damals, als er zweiundzwanzig war und sich nicht mehr als eine winzige Wohnung leisten konnte, von der ihre Familie nichts wusste. Ebenso wenig wie seine Mutter, die starb, als sie beide im zweiten Semester auf dem College waren. Damals hatte er versucht, aus seinem Leben etwas zu machen, um ihnen eine schönere Zukunft zu verschaffen, anstatt nur von ihr zu träumen.
Und dann berührte sie seine Hand, und er kehrte jäh in die Gegenwart zurück, zu Kate Stockwell, die warm und schläfrig und absolut begehrenswert vor ihm im Hotelbett lag.
„Leg dich zu mir, Brad“, murmelte sie. „Du musst schlafen.“
Er sah sie an. Er beobachtete, wie sie die Hand zurückzog, neben die andere unter ihre Wange schob und wieder einschlief.
Jeder Muskel in seinem Körper schrie nach Entspannung. Nach Schlaf. Seit ihrer ersten Nacht im Hotel hatte er darauf geachtet, vor ihr aufzuwachen und aus dem Bett zu sein, bevor sie die Augen aufschlug. Er wusste nicht, ob sie ahnte, dass er das Bett mit ihr geteilt hatte. Sie hatten es nie angesprochen.
Brad kam sich idiotisch vor, als er sich zwang, sich neben ihr auszustrecken. Ein Muster an Selbstbeherrschung.
Er drehte den Kopf, fand das Kissen und schloss die Augen, obwohl sein Verstand keine Ruhe gab.
Neben ihm bewegte Kate sich, und aus ihrer Hälfte der Mitte wurde die Hälfte seiner Seite. Sie ließ ihren Arm über seine Hüfte gleiten und ihre Hand über seine Brust, bis sie auf seinem Herzen lag.
Ihr frischer Duft stieg ihm in die Nase.
Er atmete tief durch und zog sie samt Decke an sich. Heute kein Albtraum, dachte er, während sie sich im Schlaf zu ihm drehte.
Dann schloss er endlich die Augen.
Und schlief ein.
Mrs. Hightower musste vergessen haben, die Vorhänge zu schließen. Nur deshalb schien die Morgensonne direkt auf Kates Bett und riss sie unsanft aus dem Schlaf.
Kate drehte sich ins Halbdunkel und zog das Kissen über den Kopf. Ihr erster Termin war um zehn Uhr.
Doch dann spürte sie den warmen schweren Arm an ihrer Hüfte.
Die Realität traf sie wie ein Schwall kalten Wassers.
Sie lag nicht in ihrem breiten und einsamen Bett in Grandview.
Sie war in Boston, und wie an jenem ersten „Morgen danach“ war sie nicht allein.
Neben ihr lag ein Mann, der protestierend brummte, als sie sich bewegte. Der sie mühelos an sich zog, fast auf seinen breiten
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