Julia Collection Band 61 (German Edition)
welche Möglichkeiten Christina gehabt hätte, wenn ihr Leben nicht so früh beendet worden wäre. Heute aber empfand er nur einen dumpfen Schmerz. Doch er wollte die scharfe Pein wieder spüren, damit er sich seiner Einsamkeit ganz bewusst wurde – und auch des Schwurs, den er nach Christinas Tod geleistet hatte.
Er leerte sein Glas und goss sich zum dritten Mal ein. Es war Zeit, sich wie verabredet telefonisch mit der Station in Verbindung zu setzen, um zu erfahren, ob alles in Ordnung war. Bei der Vorstellung, die Delfine könnten bei ansteigender Flut hilflos aus den großen Becken ins Meer gespült werden, wurde ihm ganz elend. Auch diesmal könnte er nichts dagegen tun. Die See nahm sich, was sie wollte. Doch die Delfine konnten mit der Gewalt des Meeres ganz sicher besser umgehen als er.
Als er zum Schreibtisch ging, auf dem das Telefon stand, fiel sein Blick auf das alte Märchenbuch. Er berührte den Einband, zog die Hand aber erschreckt zurück, denn das Buch fühlte sich warm an. Nein, heute Nacht würde er sich nicht damit beschäftigen.
Kindermärchen konnte er nicht ertragen, besonders seit er wusste, dass er nie eigene Kinder haben würde, denen er Märchen vorlesen konnte.
Die alte Roma hatte prophezeit, das Buch würde ihm den Weg zu dem zeigen, was er sich ersehnte. Das war nicht sehr wahrscheinlich. Im Gegenteil, Geschichten von Liebe und immerwährendem Glück würden ihn nur unglücklich machen.
Er griff zum Telefonhörer. Nach dem Gespräch mit der Station würde er sich mit der Brandyflasche auf das Sofa zurückziehen und den Sturm abwarten. Außerdem musste er sich endlich von den unziemlichen Gedanken an Annie lösen.
Auch sie erinnerte ihn schmerzhaft an etwas, das er nie haben konnte.
Passionata Chagari starrte gebannt in ihre Kristallkugel.
Dieser dreiste junge Scoville bringt es tatsächlich fertig, der Magie zu trotzen, dachte sie kopfschüttelnd. Doch das würde sie nicht zulassen.
Es gab Wege, ihn auf das Ziel zu lenken, das das Schicksal für ihn vorgesehen hatte. Sie musste sich nur fest darauf konzentrieren.
Der Hurrikan, überlegte sie. Vielleicht fühlten sich die beiden in dem Haus zu sicher. Der Sturm bot eine Möglichkeit, Nick der Wahrheit näher zu bringen.
Der junge Mann hatte noch viel zu lernen und viel wieder zu verlernen. Und sie, die alte weise Roma, die die magischen Kräfte ihres Vaters geerbt hatte, konnte ihm die nötigen Lektionen erteilen.
Wieder flackerte das Licht. Annie legte das Buch aus der Hand und starrte angespannt auf die Nachttischlampe. Sie hatte auch so schon Schwierigkeiten, sich auf den Roman zu konzentrieren, obgleich es eine zauberhafte Liebesgeschichte war, die ihre Schwester Brenna mit in ihr Paket gelegt hatte. Wie lieb von ihr, dachte Annie. Brenna hatte an alles gedacht, was es auf der Insel nicht gab: ihre Lieblingsschokoriegel, Nagellack, Seife mit Vanilleduft und eben diesen neuen Liebesroman ihrer Lieblingsautorin.
Annie betrachtete ihre frisch lackierten Zehennägel und lächelte. Im Dorf gab es einen Laden, in dem man das Nötigste kaufen konnte. Aber blauer Nagellack gehörte ganz sicher nicht dazu.
Der Sturm war kräftiger geworden. Er heulte um das Haus und ließ die Zweige gegen das Fenster peitschen. Dennoch fühlte Annie sich in ihrer Suite sicher. Dieser einstöckige Flügel des Hauses war erst vor fünf Jahren angebaut worden. Entsprechend hell waren die Räume, dazu liebevoll eingerichtet. Zu Hause hatte Annie kein so schönes Zimmer.
Wieder blickte sie auf das aufgeschlagene Buch. Es war eine hinreißende Liebesgeschichte, aber leider konnte sie kaum mehr als einen Absatz lesen, ohne an Nick zu denken.
Seit Wochen hatte sie jetzt schon diese erotischen Fantasien von ihrem Chef, die sie immer schnell zu vergessen versuchte. Ein Nick Scoville war entschieden eine Nummer zu groß für die kleine Annie aus Boston.
Doch immer, wenn sie die Augen schloss, sah sie sein Gesicht vor sich, seine schön geschwungenen Lippen und das helle Haar, das ihm in die Stirn fiel. Und dann sehnte sie sich danach, ihn zu berühren. Nicht nur sein Gesicht, wie sie zugeben musste.
Wenn sie allerdings zusammen waren, das hieß, in einer Situation, in der sie sich durchaus berühren könnten, war sie nervös und unsicher und erkannte sich kaum wieder. Ihr war sogar aufgefallen, dass sie albern kicherte und vor Erregung feuchte Hände bekam, wenn er ihr nahe kam.
Sie hatte lange darüber nachgedacht, was das bedeuten könnte. Auch
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