Julia Exklusiv Band 238 (German Edition)
man Ihnen im Krankenhaus eigentlich meine Sachen gegeben? Darunter müsste sich eine Haarspange befinden.“
Hanif wusste, dass dem nicht so war, aber selbst wenn er ihre wenigen Habseligkeiten nicht durchsucht hätte, hätte er beschwören können, dass keine Haarspange darunter sein würde. Als er Lucy gefunden hatte, waren ihre Haare um ihr Gesicht ausgebreitet gewesen wie ein Schal.
„Ich fürchte, es ist alles verbrannt bis auf Ihre Armbanduhr“, sagte er.
Sie seufzte. „Dann ist es hiermit beschlossene Sache: Sobald ich wieder zu Hause bin, lasse ich mir die Haare schneiden.“
„Aber warum nur?“, fragte er. Ihm war unbegreiflich, warum eine Frau sich freiwillig von einer solchen Pracht trennen sollte.
„Es macht eine Menge Arbeit und ist ständig im Weg. Ich wollte es mir gleich nach dem Tod meiner Großmutter kurz schneiden lassen.“ Selbst vor der Beerdigung hatte sie noch daran gedacht, sich einen flotten Bubikopf zuzulegen, um all die bigotten alten Schachteln zu schockieren. Sie hatten schließlich dazu beigetragen, ihr das Leben zur Hölle zu machen, bis Lucy alt genug gewesen war, sich ihrem Einfluss zu entziehen.
„Warum haben Sie es nicht schon früher getan?“, wollte Hanif wissen. „Ihre Großmutter hätte Sie in den letzten Jahren nicht mehr daran hindern können.“
„Nein, das stimmt. Ich bin mir sogar sicher, dass sie damit gerechnet hat, dass ich es tue.“ Genau wie sie erwartet hatte, dass Lucy sie im Stich lassen würde. „Stattdessen habe ich mir am ersten Tag, als ich über das Haushaltsgeld verfügen konnte, ein teures Shampoo gekauft, eine Haarspülung und einen weichen Kamm. Und habe das Haar offen getragen.“
„Um es Ihrer Großmutter heimzuzahlen?“
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich kein artiges Kind war.“
„Das haben Sie.“ Er nahm eine Strähne ihres blonden Haars in die Hand und betrachtete es. „Ich hoffe, Sie nehmen mir diese Bemerkung nicht übel, aber ich denke, Sie haben es ein bisschen auch für sich getan.“
Lucys Lippen öffneten sich, um zu protestieren, doch sie brachte keinen Laut hervor. Was wollte er damit andeuten?
„Ich werde Ihnen Haarnadeln besorgen lassen“, fuhr Hanif fort. „Bis dahin hilft Ihnen vielleicht das hier weiter.“ Damit löste er sein eigenes ledernes Haarband und schlang es um ihre Haare.
Schweigend fuhren sie in dem kleinen, reich verzierten Aufzug nach unten. Sie sprachen ebenfalls kein Wort, als Hanif den Rollstuhl durch den blau gekachelten Säulengang in den Schatten der Weiden und Judasbäume schob, die das Ufer eines friedlich plätschernden Bächleins säumten. Erst als die warme Luft sich wie eine warme Decke um ihre Schultern legte, entfuhr Lucy ein Seufzer.
„Es ist wunderschön hier“, sagte sie. „Solche Gärten gibt es in England nicht. Aber das wissen Sie ja selbst. Haben Sie eigentlich lange dort gelebt?“
„Während meiner Schulausbildung und meines Studiums“, antwortete er. „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe England. Es regnet dort für meinen Geschmack nur etwas zu viel.“
„Das kann ich verstehen“, stimmte sie ihm zu.
„Am Anfang war es eine völlig neue Erfahrung. Ich weiß noch, wie ich aus dem Haus gelaufen bin, um den Regen auf meiner Haut zu spüren.“
„Die Angewohnheit haben Sie sich bestimmt schnell abgewöhnt“, bemerkte sie trocken.
Sie erreichten ein mit Kletterrosen bewachsenes Haus, in dessen Schatten Hanif den Rollstuhl abstellte. Neben dem Gebäude lag ein großer Teich, über den vereinzelte grazile Libellen schwirrten.
Hanif legte ein kleines ledergebundenes Buch auf dem Tisch neben dem Rollstuhl ab. Lucy griff danach und öffnete es.
„Eine Übersetzung einiger Gedichte des persischen Dichters Hafiz“, erklärte er. „Er bedient sich der Bilderwelt des Gartens, um über die Liebe in allen ihren Erscheinungsformen zu schreiben.“
„Ich kann mir nichts Geeigneteres vorstellen, um es an diesem Ort zu lesen.“ Sie sah von dem Buch auf. „Sie müssen nicht hierbleiben, Han.“
Nein, das musste er nicht. Aber zum ersten Mal seit Jahren hatte Hanif keine Eile, wieder in sein Arbeitszimmer zurückzukehren. Die Aussicht, neben Lucy zu sitzen und ihr dabei zuzusehen, wie sie Gedichte las, war so viel angenehmer.
„Ich möchte Sie nicht noch länger von Ihrer Arbeit abhalten“, bekräftigte Lucy erneut. „Ich habe Ihnen schon genug Umstände gemacht.“
Sie bereitete ihm keine Umstände, sondern Freude. Sie berührte etwas in
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