Julia Exklusiv Band 238 (German Edition)
seinem Inneren.
Lucy war unglücklich und verletzt, und dennoch strahlte sie etwas Lebendiges aus, etwas Kostbares. Es war Wut gewesen, die sie dazu gebracht hatte, nach Ramal Hamrah zu fliegen. Aus Leidenschaft hatte sie ein Auto gestohlen und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihrem Mann in die Wüste zu folgen.
Fast hatte Hanif das Gefühl, dass auch er wieder in der Lage sein würde, diese Dinge zu verspüren, wenn er nur lange genug in Lucys Nähe blieb. Wenn er sie an sich drückte und küsste, würde er vielleicht endlich wieder atmen, wieder fühlen können.
„Gehen Sie schon“, drängte sie lachend. „Ich verspreche, dass ich nicht in den Teich fallen werde.“
Es war ihr Lachen, ein Echo längst vergangener, sehr viel glücklicherer Tage, das ihn schließlich aus seinen Gedanken riss. An diesem Ort hatte er häufig mit Noor gesessen und ihr vorgelesen. Dabei hatten sie beide gewusst, dass sie sich mit jedem Atemzug weiter von ihm entfernte, dass weder Macht noch Geld sie retten konnte …
„Wenn Sie mir das versprechen, werde ich Sie allein lassen“, antwortete er.
Lucy hob den Blick nicht von ihrem Buch, bis Hanif außer Sichtweite war. Sie konnte kaum glauben, wie schwer es ihr gefallen war, ihn fortzuschicken. Wie die Gegenwart eines Mannes, den sie kaum kannte, solche Empfindungen in ihr auslösen konnte. In seiner Nähe hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, nicht vollkommen wertlos zu sein.
Aber sie hatte kein Recht, so etwas zu empfinden, ganz egal, wie Steve sie behandelt und wie er sie betrogen hatte. Und dennoch konnte sie nicht anders, als verträumt auf den Pfad zu starren, den Hanif genommen hatte, so als hoffte sie, dass er zurückkommen werde.
Han saß an seinem Schreibtisch und bemühte sich vergeblich, seine Aufmerksamkeit auf die Übersetzung zu lenken, an der er zurzeit arbeitete. Zuvor im Garten hatte er für einen Augenblick beinahe vergessen, wie schmerzhaft diese letzten Tage an Noors Seite gewesen waren, zu wissen, dass es nichts gab, was er tun konnte, und zu sehen, wie ihr tapferes Lächeln immer schwächer wurde.
Eine andere Frau auch nur anzulächeln stellte für ihn bis dahin einen Verrat dar. Er würde sich nie erlauben, Lucy auf die gleiche Weise anzufassen, wie er Noor angefasst hatte, als er ihr in die Dusche geholfen oder ihr die Haare gewaschen und gekämmt hatte. Dennoch hatte er die Wärme ihres Körpers durch den dünnen Stoff ihres Seidenmantels gespürt und darauf reagiert, wie ein Mann in einer solchen Situation reagieren musste.
Hanif konnte nicht verstehen, warum er so fühlte. Es gab nichts, was besonders anziehend an Lucy gewesen wäre, zumindest nicht in ihrer jetzigen Verfassung. Ihr Gesicht war voller Blutergüsse, ihre Augen halb zugeschwollen, die Lippen dick und unförmig …
Und dennoch konnte er es kaum erwarten, wieder zu ihr zu gehen.
Verärgert über seine eigenen Empfindungen stand Hanif auf und beschloss, in den Stallungen nach dem Rechten zu sehen. Er wollte sich noch einmal mit eigenen Augen davon überzeugen, dass sein Pferd sich gut von dem anstrengenden Ritt erholte, als es vor wenigen Tagen ihn und die verletzte Lucy durch die Wüste getragen hatte.
Er hatte gerade das Haus verlassen, als er Lucy lachen hörte. Überrascht blieb er stehen. Dann trat er in den Schatten einer alten Zypresse und erblickte Lucy, die mit Ameerah in ein Spiel vertieft war. All die Jahre war er nicht in der Lage gewesen, Ameerah, seine eigene Tochter, in den Arm zu nehmen oder auch nur anzufassen. Er hatte ihre Existenz kaum anerkennen mögen.
„Kinn“, sagte Lucy und deutete mit dem Finger auf ihr Kinn.
„Kinn“, wiederholte Ameerah, berührte dann ihr eigenes Kinn und sagte das entsprechende arabische Wort.
Lucy sprach ihr nach, und die beiden lachten. Dann wandten sie sich nacheinander ihrem Haar, ihren Händen und Ellbogen zu. Jedes Mal benannte Lucy das Körperteil zuerst in ihrer Sprache, bevor Ameerah das Gleiche in der ihren tat.
Manche Worte musste Lucy immer wieder sagen, bevor Ameerah mit ihrer eigenen Aussprache zufrieden war. Die beiden schienen eine Menge Spaß miteinander zu haben.
Es war eine Szene voller Unschuld, voll einfacher Freude, dass Hanif sich an einem Ast des Baums festhalten musste, um nicht von seinem Schmerz überwältigt zu werden.
6. KAPITEL
Lucy war sich nicht sicher, wann sie Hanif bemerkt hatte. Sie spürte seine Anwesenheit, bevor sie seine Gestalt im Schatten der Zypresse ausmachen konnte.
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