Julia Extra 0353
Taschenlampe? Darf ich sie mir mal anschauen?“
Im Halbdunkel rollte Mollie ihr die Lampe herüber. Sie war schon alt und der Mechanismus viel zu kompliziert für eine Dreijährige. Schließlich fand Jennie den richtigen Schalter. Ein schwacher Lichtkegel erhellte das Baumhaus. Mit verweinten Augen und triefender Nase saß Mollie zusammengekauert in der Ecke.
„Ist dir kalt? Möchtest du auf meinen Schoß kommen?“
Mollie schüttelte den Kopf, rutschte jedoch ein wenig näher.
Jennie spürte, dass sie jetzt sehr behutsam vorgehen musste. All die Bücher, die sie gelesen hatte, halfen ihr jetzt nicht weiter. Sie würde einfach auf ihr Bauchgefühl hören müssen, auf das, was sie selbst als Kind in dieser Situation gebraucht hätte. Alles, was sie sich damals nach dem Tod ihrer Mutter gewünscht hatte, war, dass sich jemand Zeit für sie genommen und ihr zugehört hätte. Aber niemand war wirklich auf sie eingegangen. Alle hatten so getan, als wäre alles wie immer. Und es hatte Jennie unendlich traurig und einsam gemacht, mit niemandem darüber sprechen zu können, wie sehr sie ihre Mutter vermisste.
Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. „Als ich ein kleines Mädchen war, ist meine Mami auch gestorben“, sagte sie zu Mollie, die sie jetzt mit großen Augen ansah.
Mit einfachen Worten erklärte Jennie dem Kind, was es bedeutete, wenn ein Mensch diese Welt für immer verließ. Sie sagte ihr, dass sie ihre Mutter nie wiedersehen würde – jedenfalls nicht in diesem Leben.
Mollies Lippen begannen zu zittern. „Ich … ich will nicht, dass Mami tot ist“, schluchzte sie.
Jennie konnte das nur allzu gut verstehen und fühlte, wie sehr sie ihre Mutter noch immer vermisste. Eine Träne rollte ihre Wange herab.
„Warum weinst du denn?“, wollte Mollie wissen.
„Weil … weil meine Mami auch nicht mehr da ist“, erwiderte sie. „Und manchmal bin ich deshalb sehr wütend. Aber das ist in Ordnung. Man darf ruhig wütend sein oder traurig, und man darf auch weinen, wenn einem danach ist.“
Mollie kam noch näher, rutschte auf Jennies Schoß und schlang die Arme um ihren Hals. Dann strich sie ihr tröstend mit ihrer kleinen Hand über den Rücken – wie es Becky wahrscheinlich getan hatte, um sie zu beruhigen. Jetzt flossen Jennies Tränen ungehemmt, und auch Mollie fing erneut zu schluchzen an.
Nach einer Weile spürte Jennie, wie das Kind sich in ihren Armen entspannte. Sie wischte sich die Tränen ab.
„Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe schrecklichen Hunger“, sagte sie schließlich. „Was meinst du, sollen wir nicht reingehen und uns was zu essen machen?“
Mollie nickte stumm.
Jennie reichte ihr die Taschenlampe. „Willst du uns ein bisschen leuchten?“ Mollie strahlte.
Vorsichtig kletterten sie die Leiter hinunter.
Auf dem Weg zurück zum Haus musste Jennie an die verunglückte Mahlzeit von gestern denken: verbranntes Toast und lauwarme gebackene Bohnen.
„Vergiss es“, sagte sie laut. „Ich werde uns etwas zum Essen bestellen.“
„Können wir Pizza essen?“, erklang Mollies leise Stimme von hinten.
Jennie lächelte und streckte die Hand nach ihr aus. „Natürlich.“
Jennie starrte auf die Pizzareste, die in dem offenen Karton vor ihr lagen. Nachdem Alex nach Hause gekommen war, hatte er sie nur kurz begrüßt und war sofort zu Mollie nach oben gegangen. Inzwischen waren 45 Minuten vergangen.
Das Warten wurde immer unerträglicher. Sie musste irgendetwas tun und begann, das Geschirr in die Geschirrspülmaschine zu räumen. Wenig später hörte sie Alex’ Schritte im Flur. Ihre Gedanken überschlugen sich. Tausend Gründe zu ihrer Verteidigung schossen ihr durch den Kopf, und sie fühlte sich plötzlich wieder wie das kleine Mädchen von damals, das voller Angst den Beschimpfungen des Vaters entgegensieht.
Doch Alex hielt ihr keine Standpauke. Er sagte gar nichts und vermied ihren Blick. Das war fast schlimmer. Er holte zwei Weingläser aus dem Schrank, füllte sie mit Rotwein und zeigte zum Wohnzimmer hinüber. Jennie folgte ihm.
Jennie setzte sich auf einen Stuhl vor dem Kamin, und Alex nahm auf dem Sofa Platz. Es entstand eine weitere unangenehme Pause. Sie nippte an ihrem Glas und sah ins Feuer, bis sie schließlich das Schweigen nicht mehr aushielt.
„Es … es tut mir so leid“, brach es aus ihr heraus. „Ich habe sie nur für einen kleinen Moment aus den Augen gelassen …“
Sein Blick brachte sie zum Schweigen. Sie erwartete seine
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