Julia Extra 260
sprechen.
Befriedigung und Vorfreude durchströmten ihn. Plötzlich war das Leben viel interessanter geworden.
Damit sie das in allen Regenbogenfarben schillernde Licht, das durch die Zwischenräume des Rosenfensters in die Kathedrale drang, besser sehen konnte, legte Vanessa den Kopf zurück. Die Stimme aus dem Kopfhörer informierte sie über Daten, Könige und die Techniken, mit denen im Mittelalter Glas hergestellt wurde. Trotz all seiner interessanten Details musste der Audioführer mit einer sehr ernstzunehmenden Ablenkung konkurrieren.
Einer Ablenkung, die ihre Blicke wie magisch anzog. Doch so groß die Versuchung auch war, sie zwang sich zu widerstehen. Sie war hier, um Paris zu sehen, und nichts anderes.
Als ihr Großvater im Frühling gestorben war, hatte sie sich diese Reise geradezu verordnet. Drei Jahre zuvor war seine Frau ganz unerwartet verstorben, und seitdem war es mit seiner Gesundheit bergab gegangen.
Nach dem tödlichen Verkehrsunfall ihrer Eltern hatten ihre Großeltern sie großgezogen. An ihre richtigen Eltern hatte sie keine Erinnerungen mehr. Ihre Großeltern hatten sich liebevoll, jedoch auch überfürsorglich um sie gekümmert. Als Kind hatten ihre Großeltern ihr Leben und ihre Sicherheit bedeutet. Doch als sie älter geworden war, hatte sich das Verhältnis umgekehrt und sie plötzlich für ihre Großeltern gesorgt.
Deshalb hatte sie auch leichten Herzens auf das verzichtet, was die meisten Mädchen in ihrem Alter sich wünschten. Sie war zufrieden damit, am örtlichen College Bibliothekswissenschaften zu studieren, anstatt Kunst oder Sprachen an einer Universitätim Ausland. So konnte sie zusammen mit ihren Großeltern in dem gemütlichen viktorianischen Haus in der netten Kleinstadt im Süden Englands wohnen bleiben. Und anstatt in den Ferien die Welt mit Zelt und Rucksack zu erkunden, arbeitete sie in der öffentlichen Bibliothek und las in Büchern von fernen Ländern. Statt auf Partys zu gehen und sich zu verlieben, besuchte sie mit ihren Großeltern Theater und Konzerte für klassische Musik.
Lange führte sie ein Leben, das nicht unbedingt zu ihrem Alter passte, ruhig und eingeschränkt, aber sie hatte es nie bedauert. War sie sich doch immer schmerzhaft bewusst, dass es nicht von Dauer sein würde.
Und nun waren ihre Großeltern tot. Vanessa hatte alle Zeit der Welt für sich. Sie empfand ein Gefühl von Freiheit, gemischt mit Traurigkeit, weil sie keine Familie mehr hatte und niemand irgendwo auf sie wartete.
Aber trotz aller Traurigkeit war sie seit ihrer Ankunft am Pariser Flughafen vor wenigen Stunden auch aufgeregt. Alles erschien ihr wunderbar, bezaubernd und spannend – mit der Metro zu fahren, ihre Französischkenntnisse an echten Franzosen auszuprobieren, mit vor Staunen offenem Mund und dem Koffer in der Hand durch die Straßen zu der kleinen Pension, in der sie ein Zimmer reserviert hatte, zu schlendern. Sie wollte sich so viel wie nur möglich ansehen.
Notre Dame war ihr erstes Ziel. Schon aus der Ferne hatte sie die große Kathedrale, die wie ein Schiff auf der Île de la Cité in der Seine lag, gesehen und sich auf dem kürzesten Weg dorthin gemacht.
So wie jeder Mann in Paris sich offensichtlich auf dem kürzesten Weg zu ihr gemacht hatte.
Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen, dachte sie verärgert. Auch wenn sie nicht im Geringsten interessiert war, ließen sich die Männer nicht abschütteln!
Ihr Blick löste sich von den Deckenschnitzereien, über die der Audioführer gerade sprach.
Jetzt wurde sie nicht belästigt. Der Mann an ihrer Seite kümmerte sich darum. Und er selbst belästigte sie glücklicherweise auch nicht.
Und wenn er es täte, wäre es dann eine Belästigung?
Frech wanderte dieser Gedanke in ihrem Kopf herum. Vanessa drängte ihn zurück, aber der Schaden war bereits angerichtet.
Aus welchem Land mag er wohl kommen?
Verstohlen sah sie noch einmal zu ihm hinüber. Gerade betrachtete er die Kanzel vor dem Altar und bemerkte nicht, dass sie ihn ansah.
Ihr heimlicher Blick gab ihr keine weiteren Informationen als den Mittelmeerraum preis. Nun, seine Herkunft ging sie aber auch gar nichts an, denn bald wäre die Führung beendet, sie würde sich höflich bei ihm bedanken, und er würde gehen, da seine gute Tat des Tages getan war.
Sie würde ihn nie wiedersehen.
„Fertig?“
Vanessa nahm die Kopfhörer ab, schaltete den Audioführer aus und nickte.
„Ja. Ist Notre Dame nicht ein fantastisches Bauwerk?“ Ihre
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