Julia Extra 360
glauben, doch nicht ein Wort von dem, was sie sagte, hatte er wahrhaben wollen.
Er hatte sich völlig verrannt.
Sie hatte geweint. Geschrien. Mit den Fäusten auf ihn eingetrommelt, während ihr Tränen über das Gesicht strömten. Und er hatte sich einfach umgedreht und war gegangen. Hatte den Kontakt zu ihr komplett abgebrochen und sich geschworen, nie wieder etwas mit ihr zu tun zu haben.
Er hatte sich so geirrt.
Der Skandal hätte seine Firma fast in den Ruin getrieben. Etliche Überstunden waren nötig gewesen, unzählige schlaflose Nächte, ständiges Reisen von Projekt zu Projekt, um wieder da anzukommen, wo er heute war. Jetzt waren die Schulden endlich abbezahlt und sein Ehrgeiz, die Millionen einzufahren, kannte keine Grenzen.
Und die ganze Zeit über hatte er Gisele dafür die Schuld gegeben. Sein Hass auf sie war wie eine eiternde Wunde gewesen, die nicht heilen wollte. Jedes Mal, wenn er an sie gedacht hatte, war die Wut in ihm übergeschäumt. An manchen Tagen war ihm der Zorn wie lodernde Flammen durch die Adern gefahren. Ein Fieber, das nicht zu kontrollieren war.
Das plötzliche Schuldbewusstsein sorgte dafür, dass ihm ein wenig schlecht wurde. Er rühmte sich, nie falsch zu urteilen. Er strebte nach Perfektion – auf jedem Gebiet seines Lebens. „Versagen“ gehörte nicht zu seinem Wortschatz.
Bei Gisele hatte er versagt.
Emilio holte sein Handy hervor. Giseles Nummer war noch eingespeichert – als Erinnerung, niemandem mehr zu trauen. Er hatte sich nie für den sentimentalen Typ gehalten, aber als er ihre Daten aufrief, verharrte sein Daumen zitternd über dem Knopf. Irgendwie schien es ihm nicht die richtige Art, sich telefonisch zu entschuldigen. Das sollte er persönlich machen, das war wohl das Mindeste. Er wollte diesen Fehler aus der Welt schaffen, einen Schlussstrich ziehen und sein Leben weiterleben.
Statt Gisele rief er seine Sekretärin an. „Carla, sagen Sie alle Termine für nächste Woche ab und buchen Sie mir den ersten Flug nach Sydney, den Sie bekommen können. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen.“
Gisele zeigte der jungen Mutter gerade ein Taufkleidchen, als Emilio Andreoni ihre Baby-Boutique betrat.
Sie hatte sich immer wieder ausgemalt, wie die Situation ablaufen würde, nur für den Fall, dass er sich tatsächlich eines Tages zu einer Entschuldigung durchringen sollte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie ihn ansehen und nichts fühlen würde, nichts außer dem tief sitzenden Hass auf ihn, weil er ihr nicht vertraut und sie unbarmherzig abgewiesen hatte.
Doch ein Blick auf ihn, wie er dastand – so groß und völlig fehl am Platz –, und sie hatte das Gefühl, der Boden würde sich vor ihr auftun. Emotionen, die sie bisher eisern unter Kontrolle gehalten hatte, stiegen an die Oberfläche. Wie konnte es physische Schmerzen bereiten, jemandem von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen? Wieso zog sich alles in ihr zusammen, als sie auf den Blick aus seinen schwarzen Augen traf?
Er war noch immer tief gebräunt. Es war die gleiche gerade römische Nase, die gleichen durchdringenden Augen, das gleiche markante Kinn, das allerdings im Moment aussah, als hätte es in den letzten sechsunddreißig Stunden keinen Rasierer mehr gesehen. Das leicht wellige Haar war etwas länger, als sie es in Erinnerung hatte, und die Augen, umrahmt von verboten dichten Wimpern, waren rot unterlaufen – zweifelsohne von einer durchgemachten Nacht mit irgendeinem seiner Betthäschen.
„Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment“, sagte sie zu der jungen Mutter und ging zu ihm.
Er stand bei der Auslage mit den Frühchen-Sachen, eine Hand neben einem winzigen Jäckchen mit aufgestickten Rosenblüten. Seine Hand wirkte riesig im Vergleich zu der Weste, und Gisele musste unmittelbar daran denken, dass Lily bei der Geburt selbst dafür zu klein gewesen wäre.
Sie musste sich zusammennehmen. „Kann ich dir helfen?“
„Du weißt, warum ich hier bin, Gisele“, sagte er mit dieser tiefen dunklen Stimme, die sie so sehr vermisst hatte. Sie löste einen Schauer auf ihrer Haut aus wie eine Liebkosung.
Angestrengt kämpfte Gisele um Beherrschung. Sie wollte ihn nicht sehen lassen, dass er noch immer auf sie wirkte, selbst wenn es nur eine rein körperliche Reaktion war. Sie musste stark sein, würde ihm zeigen, dass sein Mangel an Vertrauen ihr Leben nicht zerstört hatte. Sie war unabhängig und selbstständig, er bedeutete ihr nichts mehr.
„Sicher.“ Ihre Lippen
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