Julia Extra Band 0211
wieder das totale Chaos. Die Frauen umschwirrten ihn wie die Bienen den sprichwörtlichen Honigtopf, aber in ihrem Leben würde er nicht wieder Fuß fassen, dafür würde sie sorgen!
Als sie sich damals von ihm befreit hatte, war ihr die Zukunft wie ein großes schwarzes Loch erschienen, aus dem es kein Entrinnen gab. Sie hatte nicht erwartet, jemals wieder Ruhe und Frieden zu finden – geschweige denn, noch einmal lachen und das Leben genießen zu können. Und so war es anfangs auch gewesen. Sie war nach London zurückgeflohen, war in der Anonymität der Großstadt untergetaucht. Wochenlang war sie unfähig gewesen zu essen, zu schlafen oder irgendwelche Pläne zu fassen. Dann, eines schönen Frühlingsmorgens, hatte sie sich einen Ruck gegeben und beschlossen, ihr Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Sie wollte ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen zurückerobern, das sie in der kurzen Zeit ihrer Ehe verloren hatte. Sie wollte sich ein Leben aufbauen, mit dem sie, wenn auch nicht glücklich, so doch wenigstens zufrieden sein konnte. Im Laufe der Jahre war es ihr tatsächlich gelungen, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. In ihrem kleinen sonnigen Apartment, aus dessen Atelierfenstern sie London aus der Vogelperspektive genießen konnte, lebte sie ein ruhiges, zurückgezogenes Leben.
Und jetzt war Raoul zurückgekommen! Warum nur, nach all dieser Zeit? Der bloße Gedanke an ihn brachte ihr Herz sofort wieder zum Rasen. Sie schlüpfte durch die hohe Eichentür aus dem Haus und war erleichtert, dass sie so unbemerkt hatte entwischen können. Die laue Londoner Abendluft, von Blütenduft und Benzingeruch geschwängert, kitzelte sie in der Nase und gab ihr etwas von ihrer gewohnten Gelassenheit zurück. Sie war jetzt wieder Leigh Wilson, eine junge Malerin, die allein in einer aufregenden Stadt lebte, und sonst nichts!
Ich hätte mir telefonisch ein Taxi rufen sollen, dachte sie verdrossen, während sie die breiten Steinstufen hinabschritt.
“Leigh?” Sie stieß einen erschrockenen kleinen Laut aus, als sich eine hohe Gestalt aus dem Schatten der Straßenbäume löste. Wortlos starrte sie in Raouls dunkles Gesicht, das nicht die Spur eines Lächelns trug. “Darf ich dich nach Hause fahren?” Er wies mit dem Kopf auf eine lange helle Limousine, die unter einer Laterne am Straßenrand parkte. “Bitte.”
Bitte? Das waren neue, unbekannte Töne. Der Raoul, mit dem sie achtzehn berauschende, stürmische Monate zusammengelebt hatte, kannte das Wort
Bitte
nicht einmal. “Lieber nicht.” Sie warf ihm einen nervösen Blick zu. “Ich möchte wirklich nicht kompliziert oder zickig erscheinen, aber …”
“Dann sei es auch nicht!” schnitt er ihr mit seiner gewohnten Arroganz das Wort ab.
Das
war der Raoul, den sie kannte! Der ohne Skrupel über jeden hinwegtrampelte, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. “Wir müssen und werden miteinander reden, Leigh. Also, warum es unnötig aufschieben?”
Unschlüssig nagte sie an ihrer Unterlippe. “Ist das wirklich notwendig? Können unsere Anwälte die Angelegenheit nicht unter sich klären?”
“Nein, verdammt noch mal! Das können sie nicht!” explodierte er. “Ich will keine Anwälte in meine Angelegenheiten einschalten. Jetzt sei ein braves Mädchen und schenk mir ein paar Minuten deiner kostbaren Zeit, während ich dich nach Hause fahre. Kingston Gardens, nicht wahr?”
Sie runzelte die Brauen und trat unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. “Woher weißt du, wo ich wohne?”
“Ich sagte dir bereits, dass ich mehr über dich weiß, als du ahnst”, murmelte er gedehnt, und der träge Blick, den er ihr unter seinen schweren Wimpern zuwarf, ließ sie den Atem anhalten. “Zuerst war es ein möbliertes Zimmer in Baron Place, dann eine Wohngemeinschaft mit Miss …” Er zog grüblerisch die dunklen Brauen zusammen. “Ach ja, mit einer Miss Angela Hardwick, und in den letzten beiden Jahren dann das Apartment in Kingston Gardens.” Zufrieden verschränkte er die Arme vor der breiten Brust.
“Du hast mich ausspionieren lassen?” Sie kreischte fast. “Wie konntest du …”
“Halt den Mund und steig ein!” Ohne weitere Umstände griff er nach ihrem Arm und bugsierte sie geschickt in seinen Wagen. Er war noch nie für seine Geduld berühmt gewesen, und auch diesmal machte er seinem unbeherrschten Temperament alle Ehre. Leigh biss sich auf die Lippe und gab ihren Widerstand auf. Sie würde ihm ruhig und gelassen zuhören, und
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