Julia Extra Band 0319
ihrer Garderobe standen. Korpulente ältere Damen, mit ihren ergeben dreinschauenden Männern im Schlepptau, hielten ihr mit schwärmerisch vorgebrachten Komplimenten das Programmheft hin, damit sie es signierte.
Was hatte sie denn erwartet, fragte sie sich still, während sie lächelnd plauderte und unterschriebene Programme zurückreichte. Dass er mit einem gläsernen Schuh hinter der Bühne auftauchte? Glaubte sie etwa an Märchen?
Plötzlich erschien ihr das Ganze völlig absurd, dieser angebliche Moment, in dem sich ihre Blicke verhakt hatten, lächerlich. Sie musste sich das alles eingebildet haben. Sobald die Bühnenscheinwerfer auf sie herunterstrahlten, war es unmöglich, Gesichter im Zuschauerraum auszumachen.
Die Bewunderer zogen sich zufrieden zurück, hinweggescheucht von einem mürrischen Monsieur Dupres, und Abby war mit der Verlegenheit über die eigene Einfalt allein.
Einsam.
Das Wort blitzte in ihrem Kopf auf, sie verdrängte es. Schließlich führte sie ein volles und beschäftigtes Leben als begehrte Konzertpianistin. In jeder großen Metropole dieser Welt wurden ihre Auftritte gefeiert, sie sprach drei Sprachen fließend, und Legionen von Verehrern lagen ihr zu Füßen. Wie könnte sie da einsam sein?
„Aber ich bin es“, sagte sie laut in den Raum hinein. Beim Klang ihrer Stimme zuckte sie zusammen. Sie redete mit sich selbst, weil sie niemanden zum Reden hatte.
Fast unwillig nahm sie ihren alten Dufflecoat vom Bügel, der so ganz und gar nicht zu dem eleganten Abendkleid passte, und zog ihn über. Draußen auf dem Korridor konnte sie die Reinigungstruppe hören, die mit ihrer Schicht begann. Die meisten der Theaterangestellten waren schon nach Hause gegangen, zurück zu dem Leben, das sie führten.
Und was sollte sie jetzt machen? Ein Taxi zurück zum Hotel nehmen, über einem Glas warme Milch ihrem Vater vom Abend berichten und dann zu Bett gehen wie ein braves kleines Mädchen?
Mit fahrigen Fingern schloss sie den obersten Mantelknopf. Sie hatte keine Lust mehr auf die Rolle, die ihr Vater ihr schon vor Jahren zugeschrieben hatte. Diesen Mann zu sehen, wer immer er auch war, hatte den Drang in ihr erweckt, mehr zu erleben. Mehr zu sein.
Selbst wenn es nur für eine Nacht war.
Abby war vierundzwanzig Jahre alt, allein in Paris, und der Abend lag noch vor ihr … Allerdings hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sie unternehmen sollte, um ihren Hunger nach Leben zu stillen.
Monsieur Dupres erschien in ihrer Garderobe. „Soll ich Ihnen ein Taxi rufen lassen, mademoiselle ?“
Abby öffnete den Mund, um zuzustimmen, stattdessen schüttelte sie den Kopf. „Nein danke, Monsieur Dupres. Es ist ein wunderbarer Abend. Ich gehe zu Fuß.“
Der Direktor zog die buschigen Brauen zusammen. „Es regnet.“
„Trotzdem.“ Ein Akt von Trotz, unbedeutend und winzig nur, aber es fühlte sich so gut an. Sie lächelte. „Ich laufe.“
Die Hand am Mantelkragen, trat Abby auf die verlassene Rue du Faubourg St. Honoré in die feuchte Nacht hinaus. Die Bürgersteige glänzten schwarz im Regen, die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Taxis tauchten die umliegende Gegend in gelbes Licht.
Abby sah sich um. Ihr Hotel lag nicht mehr als eine halbe Meile die Straße hinunter. Sie könnte hinlaufen, so wie sie es Monsieur Dupres gesagt hatte. Enttäuschung nagte an ihr. Da wollte sie das Leben spüren, und sie lief im Regen zurück zum Hotel. Erbärmlich!
Ihre Absätze klapperten auf dem Trottoir. Ein Mann hastete an Abby vorbei, den Mantelkragen seines Trenchcoats gegen das ungemütlich nasskalte Wetter hochgeschlagen. In einem Hauseingang schmuste ein Liebespärchen, Regentropfen glitzerten auf dem Gesicht der Frau. Abby ging weiter, sich mehr denn je bewusst, wie allein sie war. Eine Frau in einem Pelzmantel und mit Juwelen behangen trat aus einem Nobelhotel und schaute hochmütig auf die Welt um sich herab.
Abby blieb stehen. Licht fiel golden auf die Straße, durch die Glasfront konnte man in die mit Marmor verkleidete Lobby sehen. Ein Kristalllüster hing von der Decke herunter. Bevor die Tür zufiel, vernahm Abby das Klingen von Kristall und das leise, perlende Lachen einer Frau.
Ohne nachzudenken, was sie tat, drückte Abby die Tür wieder auf. Der Portier sprang zwar eilfertig hinzu, aber er kam eine Sekunde zu spät. Sie winkte ihn mit einer Geste fort.
Abby kannte solche Hotels nur zu gut, überall auf der Welt. Sie konnte Empfangschefs, Portiers und Pagen in mehreren Sprachen
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