Julia Extra Band 0319
Abbys Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen, bevor sie Mobiliar, verhangen mit Leinentüchern, erkannte und sich auf einen der von der Halle abgehenden Salons zubewegte.
Ihre Schritte wirbelten leichte Staubwolken auf, während sie von Zimmer zu Zimmer ging. Ein Laken zog sie fort, darunter kam ein wunderschöner antiker Tisch zum Vorschein. Vermutlich war das gesamte Schloss mit wertvollen Antiquitäten eingerichtet. Aber wieso lebte Luc nicht hier?
Sicher, sie hatte kein Recht, herumzuschnüffeln, aber sie war davon überzeugt, der Schlüssel zu Lucs Geheimnis lag hier. Und da er ihr nichts erzählte … Vielleicht konnte sie ja hier etwas über ihn und sein Leben herausfinden.
Doch auch die gespenstisch stillen Räume boten ihr keine Erklärung an. Im letzten Raum blieb Abby tief berührt stehen – hier stand ein Flügel, die Form war auch unter der schützenden Abdeckung zu erkennen.
Langsam schritt sie darauf zu und zog das Laken fort. Es war ein wunderschönes Instrument, ein Steinway, wahrscheinlich schon seit über hundert Jahren im Besitz der Familie. Sie hob den Deckel an. Ihr war klar, wie verstimmt der Flügel sein musste, und doch …
Reglos verharrten ihre Finger über den Tasten in der Luft. Seit einem Jahr hatte sie nicht mehr gespielt, hatte nicht einmal mehr ein Klavier berührt. Eine unendlich lange Zeit für jemanden, der es seit seinem fünften Lebensjahr gewohnt war, jeden Tag mehrere Stunden zu spielen. Sie holte tief Luft und ließ ihre Finger über die Klaviatur laufen. Ihre Finger waren steif und der Klang so unrein, dass ihr ein kleines Lachen entfuhr. Etwas in ihr löste sich, sie war sich gar nicht bewusst gewesen, wie fest sie es zurückgehalten hatte.
Und ohne wirklich darüber nachzudenken, begann sie die Appassionata zu spielen.
Die Tore standen offen, als Luc das Schloss erreichte. Sein Puls schlug hart und schwer, während er die schattige Auffahrt hinaufblickte. Seit mehr als einem Jahr hatte er Château Mirabeau ignoriert, geschweige denn einen Fuß hineingesetzt.
Vor zehn Minuten jedoch informierte ihn die Sicherheitsfirma darüber, dass sich jemand im Schloss aufhielt. „Keine Anzeichen eines Einbruchs“, hatte Eric, der Chef der Firma, gesagt. „Wir hielten es dennoch für angebracht, Sie zu informieren.“
„Natürlich, danke. Nein, es handelt sich nicht um einen Einbruch“, konnte Luc erwidern. Er wusste, wer in das Schloss eingedrungen war. Wer den Schlüssel gefunden hatte, den er im Bauernhaus aufbewahrte. Dieser Jemand schnüffelte jetzt in seiner Vergangenheit herum, die er so bemüht war für immer auszuradieren.
Abby.
Er schlug die Wagentür zu und ging auf das Schloss zu. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Als er das letzte Mal diesen Weg betreten hatte, war er in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Geflohen … vor der Wahrheit, die er in Suzannes Briefen gelesen hatte.
Ich bin so unglücklich … Nie hätte ich gedacht, dass es so sein würde … Ich will nur noch weg …
Und sie war weggegangen, auf die endgültigste aller Arten.
Ein Schauer erfasste ihn, als er in die Eingangshalle trat. Dieses Heim war einst sein ganzer Stolz gewesen, seine Freude, seine Obsession. Jetzt war es ein staubiges Mausoleum, das seine Erinnerungen beherbergte. Es tat weh, es in diesem Zustand zu sehen.
Irgendwo hier befand sich Abby. Abby, die nicht zu diesen Erinnerungen gehörte.
Dann hörte er es: die Musik. Nicht nur irgendein Musikstück, sondern das schönste überhaupt – die Appassionata , gespielt auf einem verstimmten Flügel, aber natürlich dennoch wiederzuerkennen.
Wie in Trance wurde Luc von den Klängen angezogen. In der Tür verharrte er reglos. Abby stand vor dem Flügel, eine Silhouette mit gebeugtem Kopf gegen das durch die Läden einfallende Sonnenlicht, gedankenversunken in ihr Spiel.
Es war ein Bild, das Luc gefiel. Es sah richtig aus, Abby passte hierher, trotz des Verfalls um sie herum. Die Musik löste eine Sehnsucht in ihm aus, die eigentlich schon immer da gewesen war, doch erst jetzt konnte er es anerkennen.
Er fühlte. Abby gelang es immer wieder, durch die Mauern seiner selbst auferlegten Gefühllosigkeit zu schlüpfen. Es wurde immer schwerer für ihn, daran festzuhalten. Jetzt fühlte er Sehnsucht und Furcht und etwas noch viel Beängstigenderes, das gefährlich an Liebe erinnerte.
Luc schüttelte den Kopf, so als könne er all diese Gedanken und Gefühle damit abschütteln, und trat in den Raum.
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