Julia Extra Band 0319
„Was, um alles in der Welt, tust du da?“
Abby erstarrte. Langsam drehte sie sich zu Luc um, aus seinen Augen schienen blaue Funken zu sprühen. „Ich spiele Klavier.“ Sie versuchte sich an einem Lachen, es gelang nur kläglich. Nie hatte sie Luc so verärgert gesehen. Sie trat von dem Flügel zurück, in ihren Fingerspitzen summte noch immer die Freude über die Musik.
Luc kam näher, er strahlte kalte Wut aus. „Wie bist du hier hereingekommen?“
„Der Schlüssel lag in der Garderobe. Aber wie hast du mich gefunden?“
„Glaubst du, ein solcher Ort ist nicht geschützt? Du hast den Alarm ausgelöst. Der Sicherheitsdienst hat mich verständigt.“
Abby blinzelte. „Ich habe nichts gehört.“
„Natürlich nicht. Es ist ein stiller Alarm. In fünf Minuten wäre die Polizei hier aufgetaucht, wenn ich sie nicht zurückgehalten hätte.“
Er sieht so wütend aus, dachte Abby. Und verängstigt. Wieso? „Warum hast du sie aufgehalten? Woher wusstest du, dass ich hier bin?“
„Du hast gestern diese Fragen gestellt. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du es nicht dabei belassen würdest.“ Er lächelte dünn. „Und ich hatte recht, nicht wahr?“
„Ich war neugierig“, erwiderte sie leise. „Hier könnte es so schön sein. Warum ist alles verbarrikadiert?“
„Das sagte ich dir gestern schon.“ Er wirkte plötzlich gehetzt, gequält. „Ich will hier nicht leben.“
„Hast du hier denn einmal gelebt?“
Müde ließ er den Blick durch den Raum schweifen. „Ich bin hier aufgewachsen.“
Abby schaute auf den Flügel. Hier lebten Geister, Geister und Erinnerungen. Sie hatte mit ihren eigenen Geistern aus der Vergangenheit zu kämpfen. Ein Leben, das allein der Musik gewidmet gewesen war, und sie, die sich nicht vorstellen konnte, ohne die Musik zu leben. Sie schlug ein paar Takte an, und Luc zog eine Grimasse.
„Er ist verstimmt“, stellte er tonlos fest.
„Ja.“
„Du musst auf den besten Konzertflügeln dieser Welt gespielt haben.“
„Stimmt.“ Sie trat zurück, plötzlich bestürzt.
„Fehlt es dir?“
„Die Musik fehlt mir.“ Sie holte Luft, beschloss, offen zu sein. „Die Freude.“ Sie sah zu ihm hin. „Und dir?“
„Was soll mir fehlen?“
„Das alles hier.“ Mit ausgestrecktem Arm deutete Abby auf das ganze Château. „Sie. Ist das der Grund, warum du dich abschottest und nie darüber sprichst? Weil du alles hier vermisst?“
Er antwortete nicht. Das Schweigen dehnte sich, wurde drückend ob all der unausgesprochenen Worte, der Reue, der Erinnerungen.
„Nein, ich vermisse es nicht“, gestand Luc schließlich leise. „Vermutlich ist es das, was ich bereue.“
Es dauerte einen Moment, bevor Abby verstand. „Dass es dir nicht fehlt?“
„Wenn du glaubst, ich habe dir nichts zu geben, weil ich meine Frau vermisse, dann könntest du dich nicht mehr irren“, stellte er mit fast zynischer Gleichgültigkeit fest.
„Aber warum dann? Was ist denn passiert, dass du dich so marterst?“
„Ich dachte …“ Kopfschüttelnd brach er ab und ging zu den großen Flügeltüren, um die Läden zu öffnen und die Türen aufzustoßen. Die Nachmittagssonne strömte herein, Abby musste blinzeln.
Der Blick über die Terrasse auf die bis zur Rhône hin abfallenden Gärten war überwältigend. Am gegenüberliegenden Ufer zogen sich endlose Reihen von Rebstöcken in die Hügel hinauf.
„Ich liebe dieses Schloss“, hob Luc an. „Vermutlich liegt es mir im Blut.“
„Es gehört deiner Familie seit Generationen?“, schloss Abby.
„Seit vierhundert Jahren.“ Noch immer schaute er schweigend auf die Gärten hinaus, sein Besitz, sein Erbe. Sein Leben. Abby machte einen Schritt auf ihn zu, blieb aber stehen, als er weitersprach.
„Mein Vater starb, als ich elf war. Er war ein guter Mann.“ Luc hielt inne. Als er weitersprach, klang seine Stimme tonlos, so als würde er nur nüchterne Fakten aufzählen. „Er hatte nicht mehr die Möglichkeit, seine Angelegenheiten zu regeln. Meine Mutter tat ihr Bestes, doch mit einem korrupten Verwalter und den Tausenden von Pflichten, die ein solcher Besitz mit sich bringt, verfiel alles mehr und mehr. Ich musste mit ansehen, wie Château Mirabeau verkam und wie das Familienvermögen unaufhaltsam schrumpfte. Hätte mein Vater das miterleben müssen, wäre er verzweifelt.“ Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Andererseits … hätte er länger gelebt, wäre es nie so weit gekommen. Als elfjähriger
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