Julia Extra Band 0325
ergriff, wo würde sie dann in ein, zwei oder zehn Jahren sein?
Als es an der Tür klingelte, sprang Emily auf. Im Augenblick war ihr jede Abwechslung recht. Als sie zur Tür ging, tauchte Javiers Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Das war verrückt. Er hatte nicht einmal angerufen; es gab keinen Grund, warum er bei ihr zu Hause auftauchen sollte.
Aber als sie den Türknauf drehte, fing ihr Herz entgegen aller Logik an, wild zu schlagen. Doch vor ihr stand eine junge Frau in der Uniform eines Lieferdienstes. Wenn man zu hohe Erwartungen hat, wird man eben enttäuscht, dachte Emily, leistete ihre Unterschrift, nahm einen großen Umschlag in Empfang und machte die Tür wieder zu. Sie warf einen Blick auf den Absender und fühlte sich gleich noch viel schlechter.
Für Emilys Hochzeitsfeier hatte Kelsey alte Fotos von Emily und Todd zu einem Spezialisten für audiovisuelle Effekte gebracht, um ein Programm zu gestalten, das den ganzen Abend lang abgespielt werden sollte. Kelseys Freund hatte versprochen, die Fotos zurückzuschicken. Sie mussten in dem Umschlag sein, auf dem „Nicht knicken“ stand.
Von wegen nicht knicken – am liebsten hätte sie das ganze Ding verbrannt. Aber genauso gut konnte sie die Fotos wieder in die Alben einsortieren.
Als sie kurz darauf die Momentaufnahmen ihres Lebens betrachtete, erinnerte sie sich, wann die Bilder gemacht worden waren. Eine Dinnerparty in der Villa des Gouverneurs. Ein Skiurlaub mit der ganzen Familie. Eine Ballettaufführung. Sie erinnerte sich an diese Ereignisse. Aber als sie die Fotos ansah, hatte sie das Gefühl, eine Anziehpuppe vor sich zu haben. Party-Emily … Sport-Emily … Ballett-Emily …
Wer war der Mensch, der in diesen austauschbaren Kostümen steckte?
Emily hielt inne, als sie ein Foto von ihrer Tante Olivia erblickte. Kelseys Mutter war von zu Hause weggegangen, als Emily drei Jahre alt war. Sie konnte sich nicht an die rebellische jüngere Schwester ihres Vaters erinnern. Aber ihr ganzes Leben lang hatte sie die Leute flüstern hören, wie ähnlich sie ihrer Tante war. Als sie das Bild von Olivia studierte, stellte Emily tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit fest – das blonde Haar und die blauen Augen.
Abgesehen davon konnte Emily sich keinen unterschiedlicheren Menschen vorstellen. Olivia hatte sich gegen ihren Vater aufgelehnt und sich für den Mann, den sie liebte, und gegen das Familienvermögen entschieden.
Mit dem Finger fuhr sie über das Bild ihrer Tante.
„Wir sind so verschieden“, flüsterte sie. Wie die Zikaden, die sich auf der Gartenmauer häuteten. Ihre Hüllen sahen genauso aus wie die Insekten. Aber im Inneren waren sie leer. Emily fühlte sich auch leer …
Ein Gefühl, das nur schlimmer werden würde, wenn sie nicht wenigstens versuchte …
Nachdem sie die Fotoalben verstaut hatte, lief Emily den Gang hinunter. Als sie ihr Zimmer erreichte, zog sie ihr Handy und Annas Visitenkarte aus der Tasche. Sie wählte die Nummer und wartete ungeduldig. Anna brachte kaum ein Hallo heraus, da sagte Emily schon: „Anna, hier ist Emily Wilson.“
„Emily! Wir wollten dich auch gerade anrufen.“
„Wir?“
„Ich bin im Restaurant, bei Javier.“
„Oh.“ Emily kämpfte gegen die Versuchung, darum zu bitten, mit ihm sprechen zu dürfen. Nur seine Stimme zu hören, würde ihr Selbstvertrauen stärken. Aber bei dieser Entscheidung durfte es genauso wenig um Javier gehen wie um ihre Eltern. Eine Krücke gegen eine andere auszutauschen, würde ihr nicht helfen, auf eigenen Füßen zu stehen. „Also, ich rufe an, weil ich ein Angebot für das Haus machen will.“
Natürlich rechnete Emily mit einer begeisterten Antwort. Annas Zögern ließen ihre Hoffnungen schwinden.
„Emily, jemand anders hat ein Angebot gemacht“, erwiderte Anna traurig.
„Das war’s dann also“, meinte Emily und ließ sich aufs Bett sinken. „Ich habe meine Chance vertan.“
Sie hatte zugelassen, dass ihre Ängste und Unsicherheiten ihren Traum zerstörten. Sie war sich so sicher, dass schon alles verloren war, dass sie Annas nächste Worte zuerst gar nicht zur Kenntnis nahm. „Nein, nein. Es ist nicht zu spät. Die Verkäufer haben das Angebot noch nicht angenommen. Ihre Maklerin weiß, dass du Interesse hast. Und ich glaube, sie hoffen, dass du ein besseres Angebot machen wirst.“
Natürlich besaß Emily genug Geld, um mehr zu zahlen als die Verkäufer verlangten. Aber niemand musste ihr sagen, dass so ein Verhalten nicht sehr fair war.
Sie
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