Julia Extra Band 0328
gemacht, oder?“, merkte er nebenbei an.
Tief und schwer senkte sich Stille über sie. Sie fuhr fort, sich abzutrocknen, und er fuhr fort, ihr dabei zuzuschauen. Doch etwas hatte sich verändert, er wusste nur nicht was. Ihr verzweifelter Fluchtversuch hatte bewiesen, dass sie eine tapfere, wenn nicht gar rücksichtslose Frau war. Doch momentan ähnelte sie eher einem verdreckten Kätzchen mit großen, neugierigen Augen.
„Warum bist du eigentlich im Bahnhof stehen geblieben?“, fragte er. „Man hätte dich beinahe niedergetrampelt.“
Ein raues Lachen entrang sich ihrer Kehle. „Ich habe kein Geld dabei“, sagte sie. Ihre Blicke trafen sich. Sie hatte den Eindruck, als wolle er etwas antworten, doch er hob lediglich eine Augenbraue.
„Und jetzt?“, fragte sie leise. „Muss ich mich als deine Gefangene betrachten?“
Ein nicht unwesentlicher Teil von ihm war noch immer wütend auf sie. Doch er hatte nicht vergessen, dass ihm selbst im größten Zorn die Berührung mit ihr unter die Haut gegangen war. Und er hatte gedacht, er sei dagegen unempfindlich! Wie er sich doch all die Jahre nach ihr gesehnt und sich selbst belogen hatte, um es zu vertuschen. Er hatte die starke Vermutung, dass er sie heimlich bewunderte, gerade, wenn sie ihn beschimpfte, belog, beleidigte.
Was bist du nur für ein Mann?
„Ich muss erfahren, was geschehen ist“, sagte er gefasst. Er sah sie nicht an, stattdessen betrachtete er im Vorüberfahren die Gebäude und Monumente von Paris.
„Deine Antwort ist also klar. Ich bin deine Gefangene.“ Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. „Für wie lange?“
Natürlich hätte er antworten können: „Solange es mir gefällt.“ Er hätte sie daran erinnern können, dass er ein König mit unbeschränkter Macht war. Dass er absolute Kontrolle über sie besitzen könnte. Doch er wandte sich ihr zu und begegnete ihrem getrübten Blick.
„Bis du mir erzählst, was ich wissen will“, sagte er nur.
„Also für immer“, sagte sie mit hohler Stimme. „Du planst mich für immer festzuhalten. Gegen meinen Willen.“
„Wann habe ich dich je gegen deinen Willen festgehalten?“, fragte er. „Habe ich dich etwa heute Morgen davon abgehalten, zu gehen?“
„Ohne einen Cent Geld“, beklagte sie sich. „Wohin hätte ich gehen sollen?“
„Wenn du mittellos bist, Jessa, brauchst du nur zu fragen.“
„Danke, ich verfüge über eigenes Geld“, gab sie scharf zurück.
„Warum hattest du dann keines dabei?“, fragte er.
Sie seufzte und senkte den Blick auf ihre Hände. Wieder breitete sich Stille zwischen ihnen aus.
„Ist das eine neue Methode, mir zu drohen?“, fragte sie leise. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf ihren Schoß gerichtet. Irgendwie schien ihn ihre Frage zu berühren, zu beschämen. „Du wolltest doch mein Leben zerstören und es mir zur Hölle machen.“
Was bist du nur für ein Mann?
Tariq atmete tief ein. Dann rieb er mit den Fingern über seine Schläfe. Als er die Stimme erhob, vernahm er sie selbst kaum.
„Du musst einfach Verständnis dafür haben, dass ich der Letzte in der Thronfolgelinie bin. Ich wurde Waise, als ich noch keine drei Jahre alt war. Ich weiß nicht einmal, ob das Bild, das ich von meinen Eltern habe, der Wirklichkeit entstammt oder ob ich es mir von Fotografien und Geschichten anderer gebildet habe.“
„Tariq.“ Sie sprach seinen Namen wie einen Seufzer aus, als ob sie Sehnsucht nach ihm hätte.
„Die einzige Familie, die ich je gekannt habe, war die Familie meines Onkels“, sagte er so eindringlich, dass er selbst überrascht war. „Ich habe immer gedacht, ich sei der Einzige, der übriggeblieben ist. Bis heute.“
„Ich verstehe nicht ganz, was du mir mitteilen willst“, flüsterte sie mit belegter Stimme.
„Habe ich vielleicht ein Kind?“, fragte er und schreckte vor dem Ton zurück, den er anschlug. Pure Unsicherheit lag darin. Er wusste nicht einmal genau, was er tun würde, sollte sie ihn zurückweisen. „Gibt es in meiner eigenen Familie mehr Abkömmlinge als nur mich?“
Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Sie gab ein Geräusch von sich, das man für heimliches Schluchzen halten konnte, obwohl sie den Mund mit der Hand bedeckte. Sie saßen da in vollkommenem Schweigen, nur der rauschende Straßenverkehr war zu hören. Er fürchtete, sie würde nicht antworten. Ein neues, bisher unbekanntes Gefühl überkam ihn und umfing ihn wie ein schwarzes Tuch. Würde er niemals erfahren, was sich ereignet hatte?
Weitere Kostenlose Bücher