Julia Extra Band 0328
schließlich. „Zuerst dachte ich, mein Zustand sei durch die Hormonumstellung bedingt. Nur die üblichen Befürchtungen einer jungen Mutter. Aber im Laufe der Zeit wurde es immer schlimmer.“
„Und warum? Was hat er denn vermisst, was du ihm nicht geben konntest?“
Mich, dachte sie. Dich. Doch sie behielt es für sich.
„Ich … war einfach nicht ich selbst“, sagte sie. „Ich habe die ganze Zeit geweint.“ Es war mehr, als Jessa ertragen konnte. Die dauernden Ansprüche des Babys. Schlafmangel. Sie war hilflos. Wenn sie nicht so schrecklich depressiv gewesen wäre …
Etwas schimmerte zwischen ihnen auf. Es war wie ein lockeres Band, dünn und fragil. Doch Jessa wollte weitersprechen und den Rest loswerden. „Die ganze Zeit las ich von dir in den Zeitungen, sah dich im Fernsehen. Und bekam so aus erster Hand mit, dass nichts von dem, was du mir erzählt hattest, stimmte. Ich hielt mich für ein verrücktes kleines Mädchen, unfähig, eine Mutterrolle innezuhaben.“
„Und deshalb hast du ihn zur Adoption freigegeben?“, fragte Tariq wie betäubt. „Du hast ihn an wildfremde Menschen weitergereicht.“
„Ich habe versucht, dich zu finden“, warf sie ein. Jessa war kurz davor zu weinen. „Ich hatte doch keine Möglichkeit, deinen Aufenthaltsort herauszubekommen.“
„Du hast versucht, mich zu finden?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht besonders gut im Versteckspielen.“
Aus seiner Miene konnte sie ablesen, dass er sich unwohl fühlte. Er schluckte.
„Du hast ihn also weggegeben?“, fragte er düster.
Sie nickte traurig. „Als Jeremy vier Monate alt war.“ Vor Rührung konnte sie kaum sprechen. „Ich habe ihn zum Abschied auf die Stirn geküsst und ihm das gegeben, was er bei mir niemals gehabt hätte.“ Sie schloss die Augen vor Schmerz. Dieser Schmerz hatte sie nie ganz verlassen. „Und nun hat er alles, was ein Kind sich nur wünschen kann. Ein Elternpaar, das ihn umschwärmt und ihn als kleines Wunder betrachtet. Es war gewiss kein Fehler.“ Sie spürte die Tränen auf ihren Wangen, machte aber keine Anstalten, sie wegzuwischen.
„Du bereust deine Entscheidung also nicht?“ Seine Stimme schien von weit her zu kommen. Jessa sah ihn mit klopfendem Herzen an.
„Ich bereue sie jeden Tag! “, flüsterte sie ihm mit zitternder Stimme zu. „Ich vermisse meinen kleinen Sohn jeden einzelnen Augenblick! “
Tariq hielt ihren Blick fest. „Dann leuchtet mir nicht ein, warum wir nicht …“
„Er ist glücklich! “ , unterbrach sie ihn. „Er ist glücklich und zufrieden. Ein gesunder kleiner Junge, der Vater und Mutter hat …“ Ihr versagte die Stimme, und Tränen rollten ihr über die Wangen. „Vater und Mutter“, fuhr sie nach einer Weile fort, „das werden wir beide niemals sein.“
Schweigend legte Tariq seinen Arm um sie, bettete ihren Kopf an seiner Schulter und überließ sie ihren Tränen.
Es war schon sehr spät, als Tariq die Telefonate mit seinen Anwälten beendet hatte. Sie bestätigten seinen Verdacht: Adoptionen in Großbritannien waren relativ selten und so gut wie nicht rückgängig zu machen. Und britische Gerichtshöfe pflegten überhaupt kein Verständnis zu haben, wenn jemand die Adoption rückgängig zu machen versuchte – auch wenn es angeblich zum Besten des Kindes wäre.
Er verließ sein Büro und machte sich auf den Weg zu der kleinen Bibliothek in seinem Haus, wo er Jessa zurückgelassen hatte, damit sie sich ein wenig erholen konnte. Schlafend fand er sie auf der Ledercouch, die Wange auf eine Handfläche gebettet. Sie sah eher wie ein kleines Kind aus als wie eine Frau, die ein Kind zur Welt gebracht hat.
Er bückte sich, um Jessa auf die Arme zu heben, und trug sie durch das ganze Haus. Sie schmiegte sich in einer Weise an ihn, wie sie es in wachem Zustand nie getan hätte. Es fühlte sich gut an.
In seinen Schlafräumen legte er sie vorsichtig aufs Bett, zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Dann sah er ein paar Sekunden lang auf sie hinab, beobachtete, wie sie atmete, und ließ sich von der tiefen Zärtlichkeit, die ihn durchflutete, überwältigen. Er wehrte sich nicht dagegen.
Ohne genau zu wissen, was er tat, mehr aus einem Instinkt heraus, schlug er die Decke zurück und legte sich neben sie. Er schmiegte sich eng an sie und atmete ihren Duft ein. Ihr Haar roch nach Jasmin, ihr Körper nach heißer Vanille.
„Ich wollte nicht einschlafen“, flüsterte sie schlaftrunken und matt in die Dunkelheit. Sie bewegte sich
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