Julia Extra Band 0349
Morgens, als sie aus ihrem Zelt trat.
Noch immer trug Honor ihren Mann und ihren Sohn im Herzen. Nach Belieben konnte sie Justins Duft wachrufen und Nates wolligweiche Wärme. Aber sie warteten nicht mehr im Wald auf sie, und sie riefen ihr über den Ozean nichts mehr zu. Sie lief zum nordöstlichsten Punkt der Insel, blickte aufs offene Meer hinaus und hoffte, in der steifen Brise eine Erinnerung aufzufangen.
Nichts.
Auf ihrer Insel waren nur noch Vögel, Krabben, Guano und der Schatten eines freundlichen, fürsorglichen, anmaßenden Mannes. Und ohne Nate, ohne Justin – ohne Rob – konnte Honor nicht länger ignorieren, wie wenig ihr geblieben war.
Sie hatte nur ihre Arbeit. Nein, nicht einmal die. Beobachtungsstunden, die wie im Flug zu vergehen pflegten, schleppten sich jetzt dahin. Das Geschnatter der Lagunenvögel hatte sie früher beruhigt, jetzt tat es ihren wiedererwachten Sinnen weh. Das Schweigen, früher so angenehm, machte ihr bewusst, dass sie ganz allein war.
Rob hatte sie aus einem vierjährigen Trancezustand wachgerüttelt. Wenn man wie betäubt war, empfand man die Einsamkeit nicht. So viele Jahre hatte sich Honor von der friedlichen Abgeschiedenheit beschützt gefühlt. Nun nicht mehr.
Parks Australia bot ihr einen Ausweg. In einem Brief, der die Insel vor zwölf Tagen mit dem Versorgungsschiff verlassen hatte, hatte Honor sich zu Gesprächen darüber bereit erklärt, ob sie möglicherweise die Leitung eines Nationalparks auf dem Festland übernehmen würde.
Honor seufzte laut, während sie auf ihre Lagune hinausstarrte. Es war das Ende eines Lebensabschnitts und der Beginn eines neuen.
Wie aufs Stichwort tauchte im Süden die Journeyman auf, und Honor schwamm mit dem ersten ihrer Säcke zum Riff. Mark kam an, und sie erklärte ihm, dass sie die Insel früher verließ. Sein Matrose sprang ins Wasser und half ihr mit der größeren Anzahl von Säcken, bis Honor schließlich den letzten aufs Riff hievte, das wegen der hohen Dünung einen halben Meter unter Wasser lag. Nachdem sie den Sack an Mark weitergereicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und blickte zurück.
Dass sie die Insel nie wieder betreten würde, war so gut wie sicher. Nur ungefähr zehn Personen im Jahr erhielten eine Genehmigung für Pulu Keeling, und sie würde wohl kaum dazugehören. Ganz gleich, wie sehr Parks Australia ihren Beitrag schätzte. Sie hatte ihre Chance gehabt.
Tieftraurig wandte Honor sich um und sprang an Bord des Versorgungsschiffs.
„Hier kommt jemand, der feststellen wird, dass es für einen Besuch zu spät ist, da Sie schon nach Cocos zurückkehren.“ Mark lachte vergnügt.
Sie schaute nach Süden. Der stahlblaue Rumpf passte farblich genau zum Horizont, weshalb das Boot im ersten Moment nur eine Luftspiegelung zu sein schien. Wie eins der Trugbilder im vergangenen Monat, als sich Honor eingebildet hatte, die Gestalt eines Mannes auf dem Riff zu sehen, am Eingang zum Camp, vor der Gedenkstätte für die Emden.
Aber dies war wirklich Rob.
Was wollte er hier? Nach allem, was sie gesagt hatte. Was sie beide gesagt hatten.
„Mir schwant, dass ich nur Ihre Ausrüstung mitnehme“, meinte Mark hinter ihr.
Das blaue Boot stoppte dicht neben der Journeyman. „Spring rüber!“, übertönte Robs Stimme das Dröhnen zweier Motoren.
Ihr Herz klopfte wie verrückt. Du liebe Güte, er sah gut aus! Honor geriet in Panik, schaffte es jedoch, halbwegs normal zu klingen. „Wohin fahren wir?“, rief sie zurück.
Er setzte die Sonnenbrille ab und blickte Honor durchdringend an. „Spielt das eine Rolle?“
In diesem einen Satz steckte alles drin. Jetzt galt es, sich zu entscheiden.
Sie konnte auf dem Versorgungsschiff bleiben, nach Cocos zurückkehren, dann nach Perth fliegen und einen neuen Job annehmen. Sich in ihrem eigenen Tempo und einem selbst gewählten Umfeld ein neues Leben aufbauen.
Wenn sie das Boot betrat, würde sie ihr Herz in die Hände eines Mannes legen, dem sie verzweifelt vertrauen wollte. Eines Mannes, der ihr das Gefühl gab, hoch geschätzt und gebraucht zu werden. Eines Mannes, der sie lieben und den sie lieben konnte und der die Macht hatte, sie mit einem Wort zu vernichten.
Honor schaute über die Schultern auf die Insel, wo sie so sicher gewesen war.
Dann setzte sie sich auf die Sitzbank der Journeyman.
Robs Gesicht wurde maskenhaft starr.
Schnell streifte sie ihre Gummistiefel ab, lächelte Mark höflich an und sprang vom Rand seines Schiffs auf das Deck von Robs
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