Julia Extra Band 0349
und die Finger in die Brust krallte.
Die Zeit, bis endlich der Notarzt und die Sanitäter kamen, war Libby wie eine Ewigkeit erschienen. Noch immer hatte sie deswegen Albträume.
„Nein, das habe ich nicht gewusst“, antwortete Rafael Alejandro gleichmütig.
„Und es hätte Ihnen auch nichts ausgemacht, richtig?“, warf Libby ihm vor. „Ihnen ist doch egal, wen Sie verletzen. Mein Bruder ist immer noch im Krankenhaus, halb tot vor Sorgen um seine Frau und sein Kind.“
„Ist das Baby weit vor dem eigentlichen Termin gekommen?“, erkundigte er sich.
„Ich rede mit Ihnen nicht über meine Familie“, fauchte sie.
„Ach nein? Ich hatte gerade den gegenteiligen Eindruck“, bemerkte er spöttisch und wandte sich dann an die Mitarbeiterin, die dem Wortwechsel fasziniert zuhörte. „Wenn Gretchen zurück ist, sagen Sie ihr, sie soll alle meine Termine für heute Nachmittag absagen.“
Dann wandte er sich Libby zu und betrachtete sie ungeduldig.
„So, jetzt kommen Sie in mein Büro!“, forderte er sie auf. „Sie müssen sich hinsetzen.“
Stur schüttelte sie den Kopf. „Ich habe doch gesessen, und Sie haben mich gezwungen aufzustehen.“
„Lassen Sie mich meinen … Wunsch anders formulieren, Miss Marchant. Entweder Sie spazieren auf Ihren eigenen hübschen Beinen in mein Büro – oder ich trage Sie.“
„Das trauen Sie sich nicht, Mr Alejandro!“
„Das war die falsche Erwiderung“, meinte er freundlich und hob Libby ohne Mühe auf seine Arme.
Libby zappelte und versuchte, ihn zu treten.
„Sie sind ja schlimmer als ein Armvoll junger Hunde!“ Lachend ging er in sein Büro und ließ Libby herab. „Ich würde Ihnen jetzt einen Platz anbieten, wenn ich nicht einen neuen Anfall zivilen Ungehorsams befürchten müsste. Eigentlich hätten Sie ja die Presse benachrichtigen sollen, um die Situation voll auszunutzen“, fügte er ätzend hinzu.
Libby atmete hastig. „Wie können Sie es wagen, mich anzufassen? Und was macht Sie so sicher, dass ich die Medien nicht informiert habe?“
„Haben Sie das denn?“, fragte er zurück.
„Ich habe mich an das lokale Fernsehen gewandt“, log Libby und sah so betont auf ihre Armbanduhr, als würde sie jeden Moment die Reporter und Kameraleute erwarten. „Denen wird es gefallen, eine weinende Frau aufzunehmen, die von Ihren Rausschmeißern aus dem Gebäude befördert wird.“
„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Spielen Sie niemals Poker“, empfahl er ihr. „Sie können nämlich nicht bluffen. Zum Beispiel sehe ich keine Tränen in Ihren Augen.“
„Das kommt noch“, versicherte sie.
Sie konnte nämlich sozusagen auf Kommando weinen, indem sie die Augen ein bisschen weiter als üblich aufmachte und einen Moment lang nicht blinzelte. Mindestens eine Träne ließ sich so produzieren, die wirkungsvoll über die Wange rollte.
Genau diesen Trick wandte Libby nun an und blickte dann herausfordernd zu Rafael Alejandro. Als er ihr einen Stuhl hinschob, musste sie sich zwingen, nicht Danke zu sagen. Gute Manieren waren ebenso schwer aufzugeben wie schlechte Angewohnheiten.
Aber sich bei einem Mann bedanken, der ihre Familie – und wahrscheinlich viele andere – ruiniert hatte? Das kam nicht infrage.
„Das ist wirklich eine beeindruckende Fähigkeit“, sagte Rafael Alejandro scheinbar bewundernd. „Allerdings funktioniert es nur einmal, oder? Dann erkennt man es als Trick.“
„Bei meinem Bruder hat es immer funktioniert“, erklärte sie stolz.
„Aber ich bin gegenüber Frauentränen völlig unempfänglich.“
Als sie an ihren Bruder dachte, der ja immer noch im Krankenhaus bei Meg und dem Baby war, überkam sie das echte heulende Elend, und nun weinte sie richtig.
Sie war so unendlich müde! Und sie hatte keine Lust mehr, sich weiter mit Rafael Alejandro anzulegen.
Weshalb war sie überhaupt gekommen? Was erhoffte sie sich davon?
Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Hatte sie eigentlich jemand von der Familie gesagt, was sie vorhatte?
Sie rieb sich die Stirn und versuchte, sich auf den genauen Ablauf der Ereignisse zu konzentrieren.
Die Idee, den Mann zu stellen, der an allem Schuld hatte, war ihr gekommen, als sie nach der langen Nacht in der Klinik nach Hause fuhr. Beim Gedanken, dass sie „Maple House“ verlieren sollten, war sie rasend vor Wut geworden – und der Adrenalinschub hatte sie hellwach werden lassen.
Sie hatte beschlossen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, also den Mietwagen
Weitere Kostenlose Bücher